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Springer, Anton; Osborn, Max [Hrsg.]
Handbuch der Kunstgeschichte (Band 5): Das 19. Jahrhundert — Leipzig, 1909

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https://doi.org/10.11588/diglit.30792#0145
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1. Das moderne Programm.

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Zukunftszielen führten. Die Menschheit hatte geträumt. Nun erwachte sie, und in zitternder
Erregung sah sie mit wachsendem Jubel den neuen Tag, der inzwischen im Osten ausgedämmert
war. Sie rieb sich die Augen und blickte sich um. lind wohin sie sich wandte, — alles erschien
ihr neu, ungewohnt, anders als vorher: das Licht, das über die Erde flutete, das Antlitz der
ewigen Natur, die mit lauterer Sprache redete, die Gestalten der Sterblichen, ihr Denken, ihr
Fühlen, die Formen ihres Zusammenlebens, ihre Beziehungen zum Weltganzen und die Mittel,
mit deren Hilfe sie einen Ausgleich ihres sinnlichen und geistigen Wesens zu gewinnen trachteten.
Es ist ein höchst reizvolles Schauspiel, zu verfolgen, wie die Kunst sich mit leidenschaft-
licher Lust im frischen Morgen dieses jungen Tages zu tummeln begann, wie sie das ver-
änderte Gesicht der Welt zu spiegeln strebte und damit rang, das innerste Empfinden der
neuen Menschen in jenen letzten Geheimnissen, die sich der verstandesmäßigen Präzision ent-
ziehen, mit der vielsagenden Sprache ihrer Symbole anzudeuten. Dies Ringen ist es, was der
Kunst einer Zeit ihren tiefsten Wert und dem Betrachter den reichsten Genuß gibt; die Resultate
des Kampfes werden immer von hundert Zufällen und von der launischen Gnade des Geschicks
abhängen. Es mag Leute geben, die der Ansicht sind, die moderne Produktion sei nirgends zu
Lösungen von solcher Rundheit und Geschlossenheit vorgedrungen wie die der Vergangenheit.
Aber auch sie werden sich der Macht nicht entziehen können, die von der Summe ihrer Einzel-
schöpfungen ausgeht, von der nie befriedigten, nie zu letztem Ausdruck gelangenden Sehnsucht,
die sie bei aller Verschiedenheit der Teile zu einer großen Einheit bindet. Mag immer ein
Rest zurückbleiben — wir leiden nicht zu sehr darunter, daß die Rechnung nie ganz aufgeht.
Denn dem von der Antike saufgestellten und von der Renaissance übernommenen Ideal des
Fertigen und Vollkommenen steht das moderne Ideal des ewig sich Entwickelnden, ewig im
Flusse Befindlichen, des Emporstrebens zu immer höherem Vollkommenheitsgrad gegenüber, das
sich der Endlosigkeit seines Mühens ehrlich, aber zugleich stolz und ohne Trauer bewußt bleibt.
Auf diesen Wegen konnte der Kunst das Vorbild der Vergangenheit nur wenig nützen.
Ganz natürlich trat an seine Stelle der revolutionäre Drang, sich von allen früher geltenden
Normen zu emanzipieren. Nur wenn das gelang, konnte sie hoffen, der neuen Aufgaben
einigermaßen Herr zu werden. Denn nicht nur das Stoffgebiet, sondern was wichtiger war:
auch die Anschauung war anders geworden; ganz von selbst drängte der neue sachliche wie
seelische Inhalt zu neuen Formen. Oder vielmehr: der Wechsel der Problemstellung führte
dazu, den Gebrauch der künstlerischen Ausdrucksformen gewissenhaft zu revidieren, ihren ab-
soluten Gesetzen Schritt für Schritt näher auf den Grund zu gehen, bei der Malerei die Sprache
der Farbe und des Lichts, bei der Plastik die Sprache der reinen Form, bei der Zeichnung
und den graphischen Künsten die Sprache der Linien und Schatten je nach den technischen
Voraussetzungen, bei der Architektur die Sprache der gefügten und geordneten Baumassen, bei
der angewandten Kunst die Sprache des veredelten Rohmaterials immer aus ihren Sonder-
bedingungen heraus von dem veränderten Standpunkt aus neu zu entwickeln. Die Vergangen-
heit konnte dazu ihre Erfahrungen leihen, aber nur um sie von dem Komplex eigentümlicher
physiologischer und psychischer Elemente aufsaugen zu lassen, der den Kern des spezifisch modernen
Kunstempfindens ausmacht.
Der erste Schritt dieser bergauf führenden Wanderung mußte eine Schwenkung von dem
durch das Studium der älteren Kunst gewonnenen Schema zum Urquell alles Kunstschaffens
selbst, zur Natur, sein. Die Nichtachtung der Tradition, die das in den Augen mancher mit
sich brachte, war nur eiue scheinbare. Denn schon das siebzehnte Jahrhundert hatte für die in
der Neuzeit führende Kunst der Malerei von den langsam zum Dogma erstarrenden Prinzipien
des Cinquecento fort auf solche Wege gewiesen. Die großartige Malerei der Niederländer und
 
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