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Springer, Anton; Osborn, Max [Hrsg.]
Handbuch der Kunstgeschichte (Band 5): Das 19. Jahrhundert — Leipzig, 1909

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https://doi.org/10.11588/diglit.30792#0148
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Dritter Abschnitt: 1850—1870.


in den alles beherrschenden Mittelpunkt
der Produktion zu rücken. Dies Problem
erschien so wichtig, daß alles geflissentlich
ferngehalten wurde, was seine Lösung
gefährden oder nur stören konnte. Es
leuchtet ohne weiteres ein, daß ein
solches Streben die allmächtige Historien-
kunst und ihre Seitentriebe auf der
ganzen Linie als entschlossener Gegner
bekämpfen mußte. Aber auch innerhalb
des nun gewählten Stoffkreises waren
Beschränkungen geboten. Da sich vor
allem das Ich des Schaffenden in der
bildend gewordenen Kraft seiner Sinne
dokumentieren wollte, so mußte das
einfachste, an sich anspruchloseste
Thema das willkommenste sein. Der
„großen Kunst", die immer noch in
allen offiziellen Würden stand, trat
eine intime Kunst gegenüber. Daneben
führten der kritische und soziale Zeit-
geist, das Leben der modernen Stadt-
menschen und die gesteigerte Liebe zur
Natur in jeder ihrer Erscheinungsformen
aufStoffgebiete, die srühereZeiten garnicht
kennen konnten, und die eben darum als

129. Lady Willoughby by Eresby, von I. Höppner.
(Mac Coll, Nineteenth Century Art)

unbeackertes Feld zur Bebauung locken
mußten. Aber wichtiger als alle solche
Sorgen erschien bald die Frage, wie

das komplizierter gewordene Seelen- und Nervensystem des modernen Künstlers auf alle diese
Dinge reagierte und die ausgelösten Eindrücke mit der Kraft seiner Hand auszudrücken ver-

möchte. Die Fontainebleauer, Millet, Courbet, Manet und die Impressionisten werden in der
Malerei die Führer auf diesem Wege. Und weiter geht es. Der Künstlergeist kann sich nicht
dauernd mit der Belauschung des eigenen sinnlich-seelischen Empfindens vor der Wirklichkeit
allein zufrieden geben. Seine Phantasie, so souverän sie auch mit jenen Eindrücken schaltete,
strebt doch noch in größere Freiheit empor. Sie blickt nicht nur nach außen, sondern lauscht
auch nach innen; aber ihr geschärftes Naturgefühl schützt sie davor, zu vergessen, daß auch die
scheinbar losgelösten Betätigungen des Menschengeistes physiologische Wurzeln haben. So stehen
Malerei, Skulptur und die anderen Künste, auch wo sie sich vom engsten Zusammenhang mit
der Wirklichkeit lösen, aus neufundiertem Erdenboden. Der Zweck, das künstlerische Erlebnis
festzuhalten, das also nun nicht mehr allein vor der Natur, sondern auch vor der inneren Welt
des Schaffenden gewonnen wird, verbindet sich dabei mit den weiteren Zwecken, das ganze
äußere Leben, in dem wir Menschen stehen, den Raum, in dem wir uns bewegen, schmückend
zu weihen. So gelangt man zu einer neuen Blüte auch der dekorativen Kunst, die, tiefer be-
griffen, in einer Verklärung unserer ganzen Existenz, einer Aussöhnung des Individuums mit
der Welt durch die Schönheit ihr sehnsuchtsvoll erschautes Endziel sieht. Kein Zufall war es,
 
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