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GESCHICHTLICHER THEIL.

DER V0RINCAISCI1E URSPRUNG DER RUINEN.

DIE PRUEHERE ANNAHME IHRES TOLTEKISCHEN URSPRUNGES.

Die Annahme, dass die Ruinen toltekischen Ursprunges
seien, ist in neuerer Zeit von Hrn. Angrand in seiner vom
15. October 1866 datirten „Lettre sur les Antiquites de Tia-
guanaco"1) wieder aufgefrischt worden. Auch J. von Tschudi
neigte sich ihr zu, wie aus folgender Stelle seiner Ausgabe
des Ollantai-Dramas (1875) her vorgeht:

„Nach langen und eingehenden Untersuchungen bin ich
zu der Ueberzeugung gelangt, dass diese Nation Eines
Stammes mit den Tolteken (Nahuatlaken) Mexikos, ein nach
Süden gewanderter Zweig dieses Volkes war. Die Piguren
des Thorfrieses von Tiahuanaco haben die überraschendste
Aehnlichkeit mit solchen an toltekischen Teocallis und
haben auch gewiss dort wie hier die nämliche religiös-
symbolische Bedeutung gehabt. Diese Ansicht ist durchaus
nicht neu, sie wurde seit mehr als zweihundert Jahren als
blosse Vermuthung theils angedeutet, theils ausgesprochen;
wirklich begründet wurde sie bisher nur von Hrn. L'Angrand."

Obgleich J. v. Tschudi später Bedenken bezüglich der
Zulässigkeit der Angrand'schen Deutungen aufgestossen sind,
und er sich selbst vergegenwärtigt hat, dass Einwürfe gegen
den Zug der Tolteken nach dem Hochlandsbecken des Titicaca-
Sees gemacht werden könnten2), so liegt doch kein Anzeichen
dafür vor, dass er in späterer Zeit auf die Möglichkeit des
toltekischen Ursprunges der Ruinen verzichtet hätte. Wenigstens
behandelte er, nahe an seinem Lebensende, Angrand's Dar-
legungen noch mit grosser Schonung indem er darüber sagt3):

„Es ist nicht zu leugnen, dass die ausführlichen Deu-
tungen des Herrn Angrand anfangs sehr viel Bestechendes
für sich haben und man denselben gläubig folgt, denn er
giebt oft überraschende und scheinbar unanfechtbare Er-
klärungen einzelner Details des Frieses, aber bei einem
gründlichen Studium der ebenso gelehrten als bescheidenen
Arbeit halten seine Erklärungen vor dem Forum der exacten
Wissenschaft nicht Stich; sie sind zum Theile ganz will-
kürlich und Kinder einer reichen Phantasie. Der Verfasser
selbst ist über die Richtigkeit seiner Deutungen mit vollem
Rechte oft zweifelhaft, während er bei anderen von derselben
ganz durchdrungen ist.

„Es würde viel zu weit führen, hier Herrn Angrand
Schritt für Schritt zu folgen, um ihn zu widerlegen; eine so

1) Erschienen in der Revue Generale de l'Architecture et des Travaux
Publics, 18G6—1867, Vol. 24.

2) Denkschriften der Kais. Acad. d. Wiss. zu Wien 1891, p. 207—209.

3) 1. c, p. 209—211.

ernste Arbeit, wie die seinige, fordert eine ebenso ernste
und gründliche Kritik, die jedenfalls, wenn sie auch etwas
spät kommt, nicht ausbleiben wird.

„Wir müssen dem Verfasser zu grossem Danke ver-
pflichtet sein, dass er durch seine sehr exacten Zeichnungen
und seine geistvollen Deutungen Anregung gegeben hat, die
Sache weiter zu verfolgen, um vielleicht doch etwas Licht
in dieselbe zu bringen."

„Diese Verhältnisse" (betreffend die Möglichkeit des
Zuges der Tolteken gerade in das kalte Hochland von
Bolivia) „erheischen in erster Linie das gründlichste Studium,
und che nicht diese Frage ihrer Klärung näher gerückt ist,
kann man auch nicht mit grosser Aussicht auf Erfolg an
eine lösende Erklärung des Frieses des Monolithen denken."

Auch Hr. Middendorf hegte früher die Ansicht,
dass die Tolteken die Urheber der Werke in Tiahuanaco
gewesen seien'1). Doch hat er dieselbe kurz nachher durch
eine andere ersetzt5), welche zwar mit der Theorie des tol-
tekischen Ursprunges insofern übereinstimmt, als sie die Er-
bauer der Ruinen ebenfalls aus Mittelamerika kommen, jenes
Wandervolk aber nicht die Tolteken, sondern die Aimarä
sein lässt. Da man die Möglichkeit des Ursprunges der Bau-
werke in einer vergangenen Culturepoche der Aimarä nicht
ohne Weiteres von der Hand weisen kann, verlangen auch
die Ansichten Hm. Middendorfs über die angeblichen
Wanderungen besagten Volkes eine Erörterung an späterer
Stelle.

Es ist nicht einzusehen, warum so Viele vermuthen, dass
die Erbauer der Ruinen aus dem Norden gekommen seien.
Die Annahme, dass die Erbauer umgekehrt von Süden nach
Norden, von Bolivien nach Mittel-Amerika gezogen seien, hätte
doch eben so viel für sich. Diese Ansicht ist zwar noch
von Niemand aufgestellt worden; aber bei Hrn. B e r6) ist es
wenigstens die Kunst, welche von Tiahuanaco nach Norden,
nach Mittel - Amerika zieht. Diese Idee hat immerhin den
Vorzug des Originellen und bringt eine gewisse Gegenströmung
in die althergebrachte Ansicht von einer Nord-Süd-Wanderung.

Hr. Ber schreibt: „A Tiahuanaco, on trouve, en effet,
les traces d'un art naissant, mais complet, portant le ca-

4) Ollantai 1890, p. 8: „Es gewinnt somit die Vermuthung, welche die
Gründung von Tiahuanacu mit der Auswanderung der von den Azteken ver-
drängten Tolteken in Verbindung bringt, einen hohen Grad von Wahr-
scheinlichkeit".

5) Die Aimarä-Sprache 1891, p. 32.

0) Bull, de la Soc. de Geogr. 1882, p. 590.

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