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Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste — 6.1915-1916

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Nummer 23/24 (Erstes und Zweites Märzheft)
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Walden, Herwarth: Aus der Zeit für die Zeiten
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Leer, Francisca van: Der Tod
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https://doi.org/10.11588/diglit.37113#0140

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kann ich mich trotz der Empfehlung des Verehrers
nicht einmal an den Birnen halten, ich, dem er
nicht helfen kann: „Er halte sich an die Birnen
des Herrn von Ribbeck auf Ribbeck, wir aber
wollen uns wieder einmal der Werke des klugen
schönen Geistes freuen, der..jetzt kommt eine
Ueberraschung für die Leute, die sich nicht an die
Birnen halten wollen: „schönen Geistes freuen,
der Fontane innewohnt." Den Schlenther hat er
also bereits wieder verlassen. Das war ein kurzer
Besuch. Wie gut, daß ich mir nicht helfen ließ.
Wovon man nicht sprechen sollte
„Der Golem ist heute in Aller Munde und das
Buch, von dem man überall spricht. Es braucht
nur ständig auf Lager zu sein. Verkaufen wird
es sich dann von selbst." Der Golem kann sich
sogar verkaufen, wenn ihn Kurt Wolff-Verlag auf
Lager verlegt. Durch Ablagerung wird er nicht
besser, denn er ist schon reichlich abgelagert, der
Golem von Gustav Meyrink. Der Kurt Wolff-
Vertretcr am Leipziger Tageblatt bestätigt es:
„Beklemmender Dunst mittelalterlichsten Prags,
den Atem zerschlagend und überirdischer Seele
Geist feiern phantastische Hochzeit, zu der Poe
und E. Th. A. Hoffmann aus vollstem Herzen den
Segen gaben." Aus vollstem Herzen. Poe und
Hoffmann werden sich aber mächtig wundern, daß
ihre Kinder nochmals geboren werden. Der Segen
wird wohl aber mehr genommen sein. Die Hoch-
zeit zwischen dem Herrn Dunst und dem Fräulein
Geist wird wohl selbst mittelalterlichsten Priestern
zu phantastisch gewesen sein. Und der Herr Dunst
hat den Atem so zerschlagen, daß dem Fräulein
Geist die Puste ausging. Darum bemerkt ein
anderer junger Mann von Kurt Wolff-Verlag im
Berliner Börsencourier: „Alles was von Meyrinks
Eigenart bisher in Skizzen und kurzen Geschichten
verzettelt war, ist hier zu einem großen ganzen,
äußerst rein und stark wirkenden Buch wie zum
ersten Mal zusammengefaßt." Große Bücher wir-
ken immer äußerst stark. Aber das hat man davon.
Erst läßt man die Eigenart verzetteln und dann
muß man sie wieder zusammenfassem Hoffentlich
ist kein Zettel verloren gegangen. Das täte mir
wirklich leid um die Eigenart. Sie wird sich wohl
auch noch gesammelt ziemlich abgerissen Vor-
kommen.
Zu leicht befunden
Mitteilung vom Kurt Wolff-Verlag: „Der
Golem, Gustav Meyrinks neuer Roman, der heute
im Mittelpunkt des literarischen Interesses aller
Gebildeten steht... Gewicht dauerhaft kartonniert
vierhundert Gramm . . . versandfertig im Karton
vierhundertachtzig Gramm." So wenig wiegt das
literarische Interesse aller Gebildeten. Aber der
Verlag ist guter Hoffnung: „Falls nicht ausdrück-
lich Feldpostausgabe bestellt, werde ich auch
nach wie vor immer die reguläre Ausgabe zur
Auslieferung bringen, zumal die Feldpostausgabe,
wenn sie ausverkauft sein wird, und die zehn-
tausend Exemplare werden rasch ausverkauft
sein, auf keinen Fall neu gedruckt werden soll."
Wenn die Feldpostausgabe ausverkauft werden
sein sollte, und auf keinen Fall nie neu gedruckt
werden sollen könnte, würde der Mittelpunkt be-
reits vier Millionen Gramm wiegen. Ohne Karton.
Der Golem wird platzen, namentlich da er zusam-
anengepreßt ist: „Die Feldpostaufgabe, in der die
fünfhundert Seiten der regulären Ausgabe auf
zirka dreihundert Seiten zusammengepreßt sind.."
Nun brauchen nur noch die dreihundert Seiten
zusammengepreßt zu werden, und der Matsch ist
fertig, ohne daß die Feldpost erst keuchen braucht.

Verlagspocsie
Kurt Wolff-Verlag: „...Im zweiten Jahre des
Krieges bemüht, von seinem Wirken kurz Rechen-
schaft abzulegen, darf der Kurt Wolff-Verlag in
Leipzig mit einiger Genugtuung darauf hinweisen,
daß er... die Umgruppierung fast der gesamten
Verlagsindustrie auf eine lohnende Kriegskonjunk-
tur hin nicht mitgemacht hat. Ohne den Ehrgeiz,
sich der herrschenden Mode in Kriegslieferungen
und Clichees anzupassen, glaubte er, zunächst
dem Geiste der Poesie lieber schweigend zu
dienen." Eine liebe Umschreibung für den Bank-
rott des Geistes der Poesie. Welche Genugtuung,
wenn der Geist auch in der Zukunft geschwiegen
hätte. Der Kurt Wolff-Verlag läßt aber dem ge-
hetzten Geist keine Ruhe, mit dem so reichlich
verdient ist. Denn er hat noch eine Aufgabe:
„Nach wie vor sieht er seine Aufgabe darin, eine
helfende und treibende Kraft des Geistes zu sein,
der unbeirrt von Schwankungen über der Zeit
schwebt." Die Aufgaben werden leider in die Zeit
verlegt, sodaß sie nachher auf Lager zu finden
sind. Der Geist ist zwar keine Taubei aber ein
Lämmlein, weiß wie Schnee: „Als Vorboten dieser
neuen Erkenntnis sollen nach prüfender Wertung
die Werke erscheinen, die auf den folgenden
Seiten verzeichnet sind." Wo haben sich die Vor-
boten die neue Erkenntnis hergeholt, da doch der
Geist von Kurt Wolff-Verlag unbeirrt von Schwan-
kungen über der Zeit schwebt. Die Vorboten kom-
men mir sehr bekannt vor. Ich kenne sie noch
aus der guten alten Zeit, die im selben Verlag an-
gestellt war. Boten schweben nicht, sie kommen
höchstens immer zu spät. Aber das Leben in
Leipzig und auf der Erde ist so interessant, daß
die Boten an jeder Strassenecke stehen bleiben.
Und dort die Schmöker von Kurt Wolff-Verlag
lesen. Den Roman von Karl Hauptmann, Bruder
eines Dichters, das Drama von Sil Vara, dem Lon-
doner Lokalchronisten der B. Z. am Mittag, die
drei Erzählungen von Carl Sternheim, die durch
den diesjährigen Fontanepreis ausgezeichnet wur-
den (Mitteilung für Eilboten: der Fontanepreis
wird von S. Fischer-Verlag und Kurt Wolff-Verlag
verliehen) die Troerinnen des Euripides, der auch
schon nicht dichten konnte, deshalb deutsch be-
arbeitet von Franz Werfel. Das alles lesen die
Vorboten nach prüfender Wertung demnächst. Der
Geist der Poesie scheint doch den Krieg zu über-
leben. Man soll nicht über das Schweigen reden,
wenn man über das Reden nicht schweigen kann.
Herwarth Waiden

Der Tod
Sophie van Leer
Die Kugel
1
Das Kind irrt mit seiner Frage durch Zimmer
und Gänge. Sein Schluchzen wühlt gegen die
Wände, sein Weinen weint durch die Halle.
„Ist er tot? Sagt mir doch, ob er tot ist."
# *
*
Sie sitzt an seinem Bett.
„Wie schön du bist. Deine Wangen flammen.
Deine Augen sind müde Blumen. Mußt du ster-
ben?"
„Es ist nicht gefährlich. Ich habe keine Schmer-
zen. Die Kugel ist entfernt."
„Schenke sie mir."
* *
*
Sie sagt zu ihrem Brüderchen:
„Setze dir einen Helm auf und hänge dir den
Säbel um. Ich will dir zeigen, wie man schießt."

Sie ladet die Flinte des Kindes und setzt sie
gegen ihre Biust.
„Ziehe nur. Es ist schon etwas darin."
11
Der Knabe sitzt in der schwarzen Kutsche
neben dem offenen Sarg. Er haucht auf die wäch-
sernen Finger. Er biegt die weißen Händchen aus-
einander und hüllt ihre nackten Fiisse in Blumen.
Er teilt die Lider und küßt ihre Augen. Seine
heiße Wange blutet über ihre Stirn.
Auf dem Kirchhof fällt der Schnee. Der leere
Sarg sinkt zwischen enge Erdenwände. Schwarz
fährt die Kutsche heimwärts. Der Knabe gleitet
mit der kleinen Leiche zu Boden.
Im Walde baut er aus Zweigen und Blättern
ein Feuer. Einzeln hält er die glasigen Fingerchen
an die knisternden Reisigflämmchcn, die blumige
Schatten auf das Totenhemd sprenkeln und er-
lischen.
Ihren Kopf nestet er an seine nackte Brust,
ihre Hände birgt er in seine Achselhöhlen, ihr Haar
spinnt er um die Stirn. Er öffnet ihre Lippen und
träufelt ihr kleine Worte in den Mund.
Am Morgen baut er einen Sarg und bettet sich
und sie darein.
Mädchen
„Geh auf einen andern Hügel spielen, Junge."
Der Blasse läuft mit Schaufel und Eimer in
die Dünen.
Das Alädchen sieht ihm nach und sucht ihn auf.
Bist du böse, daß dich mein Bruder fortge-
schickt hat?
„Wo wohnst du?" fragt er.
„In unserm Wagen. Wir haben einen Zirkus.
Und du?"
„Mehre Alutter ist krank und mein Vater hat
all sein Geld verloren."
„Ich leihe dir mein Pferd."
Sie weint auf der Matratze. Der Bruder kost
ihre Glieder.
„Gehe nicht fort. Wer soll tanzen, wer reiten,
wer dein Pferd füttern?"
Der Mond wartet. Im Schatten hinter der Düne
küßt der Blasse das Mädchen.
„Schenke mir dein Kleidchen, deine Schube,
deinen Reifen."
„Und wenn ich dir Alles schenke, wir können
mich nicht kaufen."
„Komm, spiel mit mir."
Sie ziehen Schuhe und Strümpfe aus und laufen
ln das Meer. 4 „
Kerker
Ich scheure die Wände. Meine Stirn schlägt
den Boden. Meine Zähne zernagen die Tür. Meine
Nägel krammen das Gitter.
Ein Totes legt man auf meine Schultern und all
mein Blut wird zu Tränen.
Ich will dich sehen, du einsam, wie ich, ein-
gekerkert neben mir. Streichle die Wand, küsse
die Steine, kose den Mörtel. Flüstre, schreie,
weine, iache, daß ich dich höre. Meine Lippen
lauschen.
Nun trage ich deine Schmerzen. Giesse deine
Schuld über mich aus. Halte dich an die Pfeiler
meines Bluts, das mir die Adern zerreißt. Komm
in mein Gebet, dass du nicht leidest.
In mein Gefängnis träumt der Sommer. Meine
Sehnsucht säuselt und; flüstert nach dir. Mein
Atem plätschert an der Wand.
 
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