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Ulm — Nr. 8/​9.1962/​1963

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Hannes Meyer, Director of the Bauhaus,
in Dessau, um 1928.
Hannes Meyer, Director of the Bauhaus,
about 1928.

In diesem Buch sind einige der klassischen
Interpretationsfehler glücklicherweise z. T.
oder völlig revidiert worden. Andere dagegen
wurden beibehalten und sogar vergrößert.
Um das zu illustrieren, hier einige Beispiele.
Die Persönlichkeit und das Werk von Hannes
Meyer — bis heute zu einem Schattendasein in
der “Zone des Schweigens“ verdammt —
scheinen in diesem Buch mit überraschender
Ausführlichkeit behandelt. Indessen,
trotz dieses lobenswerten Bemühens um
Objektivität, gelingt es Wingler nicht, das Netz
von zufälligen Anekdoten politischer oder
persönlicher Art aufzulösen, das seit Jahren
eine sachgerechte Abschätzung des Beitrages
von Meyer zum Bauhaus verhindert. Mehr
noch, durch die Art der Dokumente, die
Wingler ausgewählt hat, um das Denken von
Meyer darzulegen, wird dieses Netz noch
dichter geknüpft. Folgende Texte wurden
veröffentlicht: 1) 'Ansprache an die Studieren-
denvertreter’ (1928); 2) 'Bauen' (1928); 3) der
offene Brief an den Oberbürgermeister Hesse
'Mein Hinauswurf aus dem Bauhaus’ (1930).
Der erste Text ist sehr geeignet, die
pädagogischen Intentionen Meyers zwei
Monate vor seiner offiziellen Übernahme
der Leitung des Bauhauses zu verstehen, aber
nicht mehr als das. Der Zweite, eines der
wichtigsten Manifeste des modernen
Funktionalismus, trägt die Nachteile aller
Manifeste dieser Epoche in sich: die Formulie-
rungen sind apodiktisch und polemisch; die
Art, Probleme zu stellen, ist aus unserer
heutigen Sicht manchmal zu wenig differenziert
und bisweilen naiv. Der Dritte ist zweifelsohne
ein ebenso wichtiger Text von Meyer; aber
man gewahrt darin zu sehr die überlasteten
Gefühle, die in jenen dramatischen Tagen
des Sommers 1930 ihn beherrschten. Diese
letzten beiden Texte jedoch tragen dazu bei,
wenigstens zum Teil, die heute am weitesten
verbreitete Vorstellung über Meyer zu
verstärken: die eines aggressiven, dogmati-
schen und subjektiven Menschen, eines
irrationalen Rationalisten, eines Egozentrikers.
Gesetzt den Fall, es wäre wirklich so, könnte
diese Tatsache heute nur jene interessieren,
die zu verschiedenen Zeiten Meyers
Freundschaft oder Feindschaft ertragen bzw.
nicht ertragen mußten. Für uns, die ihn nicht
gekannt haben, interessiert einzig zu wissen,
welches seine Ideen waren, und inwieweit
einige seiner Ideen auch heute noch fruchtbar
sind. Unsere vorurteilsfreie Wißbegier wäre
eher befriedigt, wenn der Autor außer den
oben erwähnten Texten einen vierten Text uns
geboten hätte: 'Bauhaus Dessau 1927—1930.
Erfahrungen einer polytechnischen Erziehung',
erschienen in der mexikanischen Zeitschrift
’Edificaciön’ (Nr. 34, Juli-September 1940).
In diesem Artikel, mit Objektivität und Distanz
geschrieben, gibt Meyer seine Version der
Geschichte der Bauhaus-Ideen und seinen
speziellen Beitrag zu dieser Geschichte.
Schade ist es, daß Wingler nicht Gebrauch
gemacht hat von allen Vorteilen seiner Stellung
als unabhängiger Chronist, d. h. der benei-
denswerten Stellung dessen, der ein
historisches Phänomen studiert, ohne Akteur
oder Zuschauer dieses Phänomens gewesen zu

Some of the commonest errors of Interpreta-
tion are fortunately partially or totally
corrected. Others however, have been retained
and even worthened. Here are some examples:
the personality and the work of Hannes
Meyer up to now condemned to a shadow
existence in the "zone of silence“ may seem
to be treated with surprising fulness of detail.
But in spite of these laudable endeavours
towards objectivity, Wingler does not succeed
in destroying the web of casual anecdotes
of a political and personal nature, which has
prevented for a long time an objective
evaluation of the contribution of Meyer to the
Bauhaus. Even more, this web is knit closer
by the kind of documents selected to
demonstrate Meyer’s thought. The following
papers have been published: 1) 'Address to
the Student representatives’ (1928);
2) 'Building' (1928); 3) the open letter to
Mayor Hesse 'My expulsion from the Bauhaus’
(1930). The first paper is very useful in
helping us to understand the pedagogical
aims of Meyer two months betöre he officially
took over the direction of the Bauhaus. But
that is all. The second, one of the most
important manifestoes of modern functiona-
lism, suffers from the disadvantages of all
manifestoes of that time: the formulations
are apodictical and polemical; this way of
formulating problems sometimes strikes our
present-day view as being insufficiently
differentiated, sometimes even naive. The
third text is just as important. But we perceive
here mainly the overcharged feelings
dominating Meyer in those dramatic days of
the summer 1930. The two last texts contri-
bute, at least in part, to confirm the wide-
spread image of Meyer: the image of an
aggressive, dogmatic and subjective man, of
an irrational rationalist, of an egocentric.
Supposing this to be true, this fact can be of
interest only for those who at various times
had to suffer (or not to suffer) the friendship
or enimity of Meyer. For us who never knew
him, it is of interest only to learn what were
his ideas and in how far some of these are
valid still today. Our unbiased curiosity more
easily would be content if the author had
offered us, apart from the above mentioned
text, a fourth one: 'Bauhaus Dessau
1927—1930. Experiences of a Polytechnical
Education', published in the Mexican magazine
’Edificaciön’ (No. 34, July-September 1940).
In this article written with objectivity and
serenity Meyer öfters his Version of the history
of the Bauhaus ideas and his special
contribution to this history. It is to be
regretted that Wingler has not exploited all
the advantages of the position of an inde-
pendent chronicler, of the enviable position
of the man studying a historical phenomenon
without having taken part in or witnessed it.

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