Schrift und Kunst
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Rücken hoch aufbäumt; die Mähne sträubt sich empor, der Schweif
peitscht den Boden, die Vorderfüße stemmen sich fest gegen die
Erde. Da quillt ein breiter Blutstrom aus dem sich weit öffnenden
Löwenrachen. Das ist mit höchster Realistik dargestellt und findet
in der Kunst der Welt seinesgleichen nicht. Daneben aber steht
die strenge Stilisierung der Haare in schöne regelmäßige Zotten und
Reihen, die des Blutstroms in strahlenförmig auseinanderschießende
Streifen. Der Reiz dieses Bildwerks liegt gerade in der wundervollen
Mischung der streng gebundenen und der frei realistischen Strö-
mungen, die sich in der assyrischen Kunst des 7. Jahrhunderts am
Hofe des genialen Königs Assurbanipal entfaltet haben. Diese Mi-
schung muß uns aber um so anziehender erscheinen, als wir sie auch
in der modernen Kunst, z. B. in den Gemälden von Ferdinand
Hodler, wieder frisch und lebendig bewundern können.
NEUNTER ABSCHNITT
Schrift und Kunst
Hat Assurbanipal schon als tatkräftiger Lenker eines gewaltigen
Staatswesens einen besonderen Ruf, um wieviel mehr zeichnet
er sich als feinsinniger Kunstfreund unter allen seinen Zeitgenossen
aus. Damit ist aber seine enorme Bedeutung noch keineswegs voll
gewürdigt. Er war auch von ungewöhnlichem Wissensdrang be-
seelt, die Literaturerzeugnisse der assyrischen und babylonischen
Völker selbst kennenzulernen und zu diesem Zweck insbesondere
die Kunst der Keilschrift zu studieren, was keiner von seinen
königlichen Vorfahren für nötig erachtet hatte. Die Kenntnis der
Keilschrift allein genügte aber dem König nicht; systematisch ließ
er durch seine Gelehrten die in den verschiedenen Städten seines
weiten Reiches in den Tempeln aufbewahrten Inschriften von Stelen,
Statuen und Tontafeln abschreiben und die Kopien sammeln. Seiner
genialen Initiative verdankt die erste systematische Bibliothek der
Welt ihre Entstehung. Er gründete sie im Nordpalaste in Ninive
und im„Girginakku Bit Nabu“, der „Bibliothek des Nabu-Tempels“,
aus der die Ausgrabungen seither etwa 20 000 Tontafeln gewonnen
haben, die meist in London aufbewahrt sind, aber nur einen kleinen
Bruchteil der Bibliotheksammlung darstellen. Sie enthält kata-
logisch geordnet nicht nur historische Urkunden, sondern auch astro-
4*
Institut für Ur- und Frühgeschichte
an der Universität
Heidelberg
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Rücken hoch aufbäumt; die Mähne sträubt sich empor, der Schweif
peitscht den Boden, die Vorderfüße stemmen sich fest gegen die
Erde. Da quillt ein breiter Blutstrom aus dem sich weit öffnenden
Löwenrachen. Das ist mit höchster Realistik dargestellt und findet
in der Kunst der Welt seinesgleichen nicht. Daneben aber steht
die strenge Stilisierung der Haare in schöne regelmäßige Zotten und
Reihen, die des Blutstroms in strahlenförmig auseinanderschießende
Streifen. Der Reiz dieses Bildwerks liegt gerade in der wundervollen
Mischung der streng gebundenen und der frei realistischen Strö-
mungen, die sich in der assyrischen Kunst des 7. Jahrhunderts am
Hofe des genialen Königs Assurbanipal entfaltet haben. Diese Mi-
schung muß uns aber um so anziehender erscheinen, als wir sie auch
in der modernen Kunst, z. B. in den Gemälden von Ferdinand
Hodler, wieder frisch und lebendig bewundern können.
NEUNTER ABSCHNITT
Schrift und Kunst
Hat Assurbanipal schon als tatkräftiger Lenker eines gewaltigen
Staatswesens einen besonderen Ruf, um wieviel mehr zeichnet
er sich als feinsinniger Kunstfreund unter allen seinen Zeitgenossen
aus. Damit ist aber seine enorme Bedeutung noch keineswegs voll
gewürdigt. Er war auch von ungewöhnlichem Wissensdrang be-
seelt, die Literaturerzeugnisse der assyrischen und babylonischen
Völker selbst kennenzulernen und zu diesem Zweck insbesondere
die Kunst der Keilschrift zu studieren, was keiner von seinen
königlichen Vorfahren für nötig erachtet hatte. Die Kenntnis der
Keilschrift allein genügte aber dem König nicht; systematisch ließ
er durch seine Gelehrten die in den verschiedenen Städten seines
weiten Reiches in den Tempeln aufbewahrten Inschriften von Stelen,
Statuen und Tontafeln abschreiben und die Kopien sammeln. Seiner
genialen Initiative verdankt die erste systematische Bibliothek der
Welt ihre Entstehung. Er gründete sie im Nordpalaste in Ninive
und im„Girginakku Bit Nabu“, der „Bibliothek des Nabu-Tempels“,
aus der die Ausgrabungen seither etwa 20 000 Tontafeln gewonnen
haben, die meist in London aufbewahrt sind, aber nur einen kleinen
Bruchteil der Bibliotheksammlung darstellen. Sie enthält kata-
logisch geordnet nicht nur historische Urkunden, sondern auch astro-
4*
Institut für Ur- und Frühgeschichte
an der Universität
Heidelberg