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Waldmann, Emil
Sammler und ihresgleichen — Berlin: Cassirer, 1920

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https://doi.org/10.11588/diglit.52381#0151
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Schatzgräber
Äls den fast siebzigjährigen Goethe einstmals die Sorgen des Geistes
und der Seele so sehr bedrängten, daß er nicht mehr aus und ein wußte
und keinen Frieden fand, da entwich er eines Tages, es war am 10. Ok-
tober 1817, aus Weimar und fuhr nach Rudolstadt: Er mußte die Gips-
abgüsse von den Kolossalköpfen der beiden Dkoskuren auf dem Monte
Cavallo in Rom sehen. Die Antike sollte ihm die Ruhe noch einmal
wiedergeben.
Dergleichen erscheint uns heute so vollkommen fremd. Daß einer aus
Weimar nach Rudolstadt fährt, der Antike wegen — ja, nur, daß er sich
nach den, wie es scheint, heute selten gewordenen Abgüssen dieser beiden
Köpfe sehnt, aus deren erregten Augen ein mehr römisches als griechi-
sches Pathos blickt, dies wirkt ganz und gar seltsam auf unsre Zeit. —
Die Dioskuren auf dem Ouirinalplatz sind antik. Aber es sind Kopien,
und wenn auch, wie man damals meinte und wie Canova nach seiner
Rückkehr von den Elgin Marbles versicherte, Kopien nachphidkasschen
Originalen, römische Kopien bedeuten uns so wenig. Wir glauben ja
auch heute wieder, daß Canova richtig gesehen hat und daß die einstigen
Originale wirklich von phidias stammten. Aber wer schenkt diesen so
prächtig von Bernini aufgestellten Kolossen und der in ihnen verborge-
nen Kunst mehr eingehende Aufmerksamkeit als irgendwelchen andren
römischen Kopien auch? Wer nimmt auch nur ein Opernglas mit, um
die Köpfe lange zu betrachten? Sie sind heute zum Kennenlernen, zum
Studium, zur Dekoration, zur Prachtentfaltung und noch zu vielen an-
dren Dingen da. Aber das Kunstgefühl unsrer Zeit begeistert sich an ihnen
kaum, und das Höchste, was Kunstwerke geben können und was sie Goethe
gaben, versagen sie uns.

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