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Wertheim Aymès, Clément Antoine; Bosch, Hieronymus
Hieronymus Bosch: eine Einführung in seine geheime Symbolik ; dargestellt am "Garten der himmlischen Freuden", am Heuwagen-Triptychon, am Lissaboner Altar und an Motiven aus anderen Werken — Berlin, 1957

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https://doi.org/10.11588/diglit.29111#0054
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DIE MITTELTAFEL

Der Garten der himmlischen Freuden

Auf die Gliederung der Mitteltafel in drei verschiede-
ne, in die Tiefe gestaffelte Bereiche machten wir be-
reits (S. 17) aufmerksam. Den von der dunkelgrünen
Hecke begrenzten Vordergrund haben wir als den
nächst höheren Plan des nacbtodlichen Daseins an-
zusehen, den das Ich nun erreicht, nachdem es die
Läuterungsprozesse des Purgatoriums durchschritten
hat. Es ist die Sphäre des Mondes (Farbtafel IV).

In diesem vorderen Bereich fällt sofort ein eigenar-
tiges rotes Gebilde auf, das wie ein großes A geformt
ist. Es steht dort, wo die Seelen in diese neue Region
des Jenseits eintreten. Wie das Wort aus der
Offenbarung des Johannes »Ich bin das A und das O,
der Anfang und das Ende« in der mittelalter-
lichen Ikonographie durch den ersten und den letzten
Buchstaben des griechischen Alphabets, das Alpha und
das Omega, wiedergegeben wurde, so hat hier Hiero-
nymus Bosch das A als Bildzeichen des Anfangs einge-
setzt. Schon mit dem Christus-Symbol des Fisches, das
den Grundgedanken der Mitteltafel prägt, hatte der
Maler an älteste christliche Traditionen angeknüpft.

Es können aber in dieser Geistes-Sphäre nur Dinge
gemalt werden, die auch als Natur-Produkt in der
Erdenwelt zu linden sind und da als Abbild geistiger
Wirklichkeiten erscheinen. Modische Kleidung und
andere Erzeugnisse von Menschenhand gehören hier
nicht hin, sie haben in dieser Region keinen Gleichnis-
Charakter. Darum geht Bosch auf der Mitteltafel von
Formen aus, die in der Natur — ohne Zutun des
Menschen — existieren, sodaß seine Imaginationen
immer den Anschein einer unmittelbaren Naturwie-
dergabe erwecken. Buchstaben aber sind Menschen-
werk, das nirgends von selber zustande kommt. Bosch
löst diese Schwierigkeit so, daß er das Alpha wie ein
halb vegetatives Gebilde malt, das die Mitte hält zwi-
schen Brettern und knorrigen Ästen. Die Verwendung
der hervorspringenden roten Farbe darf als Beweis
dafür gelten, daß der Maler mit diesem A den Anfang
bezeichnen wollte.

Um zu unterbauen, was im Folgenden gesagt wird,
müssen wir zunächst einen Blick auf das Heuwagen-
Triptychon (Escorial) werfen. Die Mitteltafel mit dem
»Heuwagen« schildert Leben und Treiben in der Er-
denwelt. Der rechte Flügel dagegen gibt eine Folge
eindrucksvoller Imaginationen vom Einzug des mensch-
lichen Ich in den Leib (den Turm), beschreibt also -

im Gegensatz zu den Exkarnations-Prozessen des
Purgatoriums — einen Inkarnations-Vorgang. Und wie
auf unserem »Garten« ein Seelen-Weg vom rechten
Flügel zur Mitteltafel geht, so auch auf dem Heu-
wagen-Triptychon : nachdem die Verkörperung auf dem
rechten Flügel stattgefunden hat, tauchen die Men-
schen am rechten Rande der Mitteltafel auf, aus einer
großen Felsenhöhle in die Erdenwelt tretend. Man

O

spürt, wie noch andere, hier nicht sichtbare Gruppen
nachdrängen, als der Strom der Seelen, die jetzt die
Geburt suchen (Abb. 24).

Die gleiche Szene bietet sich auf unserer Mitteltafel

Abb. 24. Hieronymus Bosch Der Heuwagen, Mitteltajel (Ausschnitt),

Escorial

Die Pforte, durch die die Seelen in die Erdenwelt treten.

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