Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Wertheim Aymès, Clément Antoine; Bosch, Hieronymus
Hieronymus Bosch: eine Einführung in seine geheime Symbolik ; dargestellt am "Garten der himmlischen Freuden", am Heuwagen-Triptychon, am Lissaboner Altar und an Motiven aus anderen Werken — Berlin, 1957

DOI Seite / Zitierlink:
https://doi.org/10.11588/diglit.29111#0091
Überblick
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
Seelenbegleiters kündigt sich bereits dadurch an, daß
ihrer Stirn ein Hirschgeweih zu entwachsen beginnt.

Es darf in diesem Zusammenhang an die Hubertus-
Legende erinnert werden. Der heilige Hubertus hatte
eine ähnliche Vision, wie einst der heilige Eustachius
um ioo n. Chr. Das vorstehende Bild (Abb. j2)läßt
gut erkennen, daß sich hinter dem Hirsch ein Erzengel
verbirgt. Der Hirsch als Psychopompos steht beim Ex-
karnations-Vorgang als Bild für den Erzengel Michael,
beim Inkarnations-Vorgang für den Erzengel Gabriel.

Nun können wir die Vorgänge zwischen den Pla-
neten im »Garten der himmlischen Freuden« besser
verstehen. Da sehen wir zum Beispiel, wie ein Hirsch —
es ist hier Gabriel — eine Gruppe Menschen beobach-
tet, die den »Spottvogel« anbeten. Die Szene spielt auf
dem gelben Gelände des oberen Devachan, in der obe-
ren Bildecke rechts vom Mars-Gebilde. Man ist hier
auf derselben Seite, wo die neue Melusine — die der
Erde zugewandte Melusine — im Kreise der »Materia-
listen« erscheint: Ahrimanisch inspirierte Geistesart
und Spottgesinnung sind einander nahe benachbart. Der
Hirsch, der jedwede Seele, mag sie gut oder schlecht
sein, zu begleiten hat, schaut angesichts der Gesell-
schaft unter dem Spottvogel erstaunt und verschüch-
tert drein.

Auch auf der Wiese zwischen Venus, Merkur und Sa-
turn auf der linken Bildseite ist der Hirsch wiederum
in einer Gabriel-Mission zu finden. Da sehen wir, wie

Abb. 53. Zwei miteinander verbundene Bronzehirsche Cagliani
Der vorgeburtliche und der nachtodliche Seelenbegleiter.

Abb. 54. Totenschijfchen mit Hirschen und einem Hirschkopf am Bug
(CaglianiJ.

er einen Menschen, der in der geistigen Welt »krank«
geworden ist und am Boden hingestreckt liegt, dar-
aufhin untersucht, ob es wohl an der Zeit ist, ihn zur
Erde hinabzugeleiten (Farbtafel XIII).

Nach der Auffassung, die hier zu Tage tritt, finden
menschliche Zusammenschlüsse, die in der Welt als
religiöse Gemeinschaften, kulturelle Strömungen usw.
erscheinen, bereits in den Sphären des vorgeburtlichen
Daseins statt. Ja, selbst die Zugehörigkeit zu einem be-
stimmten Volkstum wird —als Ergebnis des individuel-

O

len Karmas — in der geistigen Welt veranlagt.

Auf diese Tatsachen deutete Bosch u.a. hin mit der
großen Erdbeere, um die sich eine Gruppe versam-
melt hat. Die Erdbeere hatten wir die »Religions-
frucht« genannt. Die Seelen also, die sich hier zum Er-
denabstieg versammeln, werden in der Erdenwelt der
gleichen Religionsgemeinschaft angehören. Eine ande-
re große Gruppe, die in eine große, gemeinsame, gelb-
weiße Hülle (das Ei) hineindrängen, werden sich ver-
mutlich im Raume des gleichen Volksstammes oder
der gleichen Sprache Wiedersehen. Als ein weiteres
Beispiel dafür, wie Bosch das Faktum einer Schicksals-
gemeinschaft dadurch zum Ausdruck bringt, daß er
eine Menschengruppe malt, die von einem großen Ei
umschlossen wird, zeigen wir die nachstehende Zeich-
nung aus dem Berliner Kupferstichkabinett (Abb. ^6).

Auf der rechten Seite, etwas unterhalb des Jupiter-
Berges, tragen Menschen einen umgekehrten Bären
zwischen sich. In der Sprache Bosch’s heißt das: was
einst als jähzornige Feindschaft aus irdischen Gründen
zwischen ihnen stand, hat sich jetzt in die Bereitschaft
zu Toleranz und Zusammenarbeit umgewandelt. Nicht
weit von ihnen schwimmt eine Gruppe zum Ufer, wo
ihnen jemand, neben einer durchsichtigen Beere knie-
end, eine Steintafel entgegenhält: es könnte die Tafel
der zehn Gebote sein.

Und was geschieht im Geistesmeer, das alle Plane-
ten verbindet? Die kleinen, zart gemalten Menschen-

O

Entitäten,34 die da aus dem Venus-Bereich kommen,
schließen sich einer Melusinen-artigen Gestalt an,
die die Seele symbolisiert. D.h. wir sehen das erste
Stadium des Inkarnationsprozesses: das Ich beginnt

64

Farbtafel XI
 
Annotationen