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Wischermann, Heinfried; Wischermann, Heinfried [Editor]
Berichte und Forschungen zur Kunstgeschichte (Band 19): "Milites Orantes": Überlegungen zur Form und zur Deutung der Gebetshaltung mittelalterlicher Ritter auf ihren Grabdenkmälern — Freiburg i. Br.: Heinfried Wischermann, 2024

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https://doi.org/10.11588/diglit.70526#0008
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4

C
Weite Verbreitung im Orden wird der Dominikus-Zyklus aus Bologna durch einen um
1450/70 geschaffenen kolorierten Holzschnitt gefunden haben, der nur in einem beschädig-
ten Exemplar (Abb. 3) in Nürnberg21 bekannt ist. Als Titel der 3*3 angeordneten Bildchen
steht am oberen Bildrand: „Hic sunt novem modi contemplacionis“, was man nicht mit „neun
Gebetshaltungen“22 übersetzen kann. Gezeigt werden Haltungen des Ordensvaters bei geisti-
gen Betrachtungen vor dem Gekreuzigten, die für den Novizen, in dessen Zelle das Blatt hing,
vorbildlich sein sollten:
Bild 1: „genuflexo curvat se et manus ante se humiliet in modum crucis“ = humilitas,
Bild 2: „humi Stratum iacens fecit veniam ante altare manibus clausis“ = acquisitio gratiae,
Bild 3: „flexit genua et se flagellat“ = paenitentia,
Bild 4: „genuflexo, manus apertas elevat“ = intercessio,
Bild 5: „stat, manibus apertis“ = meditatio,
Bild 6: „stat, bracchiis apertis = obsecratio divinarum virium,
Bild 7: „elevat manus clausas super caput“ = exstasis,
Bild 8: „sedet, legens aut orans, elevat manus ante pectus“ = Studium, recordatio interior,
Bild 9: „orat in itinere, crucis figuram manibus imitans = pietas stabilis.
Für das Grabbild eines Ritters wäre die Handhaltung von Bild 1 mit den auf der Brust ge-
kreuzten Armen nur verwendbar, wenn er als Toter gezeigt werden sollte.
D
Der erste neuzeitliche Wissenschaftler, der sich ausführlich mit der menschlichen Kommuni-
kation mit Hilfe einer Hand oder beider Hände beschäftigte, war der englische Arzt, Physiker
und Naturphilosoph John Bulwer (1606-1656)23. Sein bekanntestes Buch ist die 1644 er-
schienene „Chirologia“, ein Kompendium der Gestik der Hand als Universalsprache. Es ist
mit 5 Tafeln illustriert, die auf jeweils 24 Bildchen lateinisch beschriftete Handhaltungen zei-
gen. Die ersten drei auf Tafel A (Abb. 4) sind die für unsere Grabdenkmäler aufschlußreich-
sten: Das Chirogramm „Supplico“ kann man als „ich bitte demütig“, das folgende „Oro“ als
„ich bitte inbrünstig“ und „Ploro“ als „ich wehklage laut mit gefalteten Händen“ verstehen.
Die drei Beschriftungen sind:
Bild A: Supplico - „manus apertae, non coniunctae versus spectatorem“,
Bild B: Oro - „manus coniunctae“,
Bild C: Ploro - „manus pectinatim consertae“.
Bild B und Bild C hat Bulwer an vielen englischen Grabmälem studieren können.
E
Kaum bekannt ist die mit 152 Figuren auf 25 Kupferplatten ungewöhnlich reich illustrierte
Abhandlung des irischen Geistlichen Gilbert Austin (1753-1837)24, der auch als Schriftsteller

21 Nürnberg, Germanisches Nationalmuseum, Inv. Nr. H 64. Sabine Griese, Bild-Text-Betrachter - Kommunika-
tionsmöglichkeiten von Einblatt-Druckgraphik im 15. Jahrhundert, in: Nikolaus Henkel u. a. (Hg.), Dialoge -
Sprachliche Kommunikation in und zwischen Texten im deutschen Mittelalter (Hamburger Colloquium 1999),
Tübingen 2003, 315-335, 328, Abb. 6; Peter W. Parshall/Rainer Schoch (Hg.), Die Anfänge der europäischen
Druckgraphik - Holzschnitte des 15. Jahrhunderts und ihr Gebrauch (Kat. Nürnberg 2005), Nürnberg 2005, Nr.
89.
22 So auch noch Wolfgang Brückner, Die Hand für das Bildgedächtnis - Digitale Kulturtechniken der Verständi-
gung, Regensburg 2020, 84.
23 John Bulwer, Chirologia: or the naturell language of the hand / Chironomia: or, the art of manuall rhetoricke,
London 1644, Taf. A. Vgl. Gabriele Groschner (Hg.), Beredte Hände - Die Bedeutung von Gesten in der Kunst
des 16. Jahrhunderts bis zur Gegenwart (Kat. Residenzgalerie Salzburg), Salzburg 2004, 61. Alle Tafeln hat
Bernd Evers in seinem Katalog „Sprechende Hände“ abgebildet und erläutert (Kunstbibliothek, Berlin 2006, 15-
29).
24 Eine ausführliche Vita nur in der englischsprachigen Ausgabe von Wikipedia.
 
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