20
(t 1195)162, deren Grabmal mit 1240/45 wohl zu spät datiert wird. Das Gewand der Mathilde
ist offenkundig mit dem der betenden Quedlinburger Äbtissin Sophie von Brena (?)163 ver-
wandt, die schon 1226 starb.
XV.
Eine überzeugende Deutung der Gebetshaltung aus glatt aufeinander oder aneinander geleg-
ten Handflächen und Fingern bzw. Fingerspitzen liegt bislang nicht vor. Die Verstorbenen
sind als Liegefiguren dargestellt, die ihre Hände wie Lebende halten, die sich als „Betende“
mit offenen Augen an ein unsichtbares Gegenüber wenden. Es ist schwierig, sich vorzustellen,
daß ihre Handhaltung wegen der bald nach dem Ableben eintretenden Erschlaffung der Glie-
der von langer Dauer war. Doch findet man sie seit dem frühen 13. Jahrhundert bei vielen
auferstehenden oder auferstandenen Seligen auf den Stürzen der Weltgerichtsportale zahlrei-
cher Kathedralen.164
Von den bisherigen Deutungen dieser Gebetshaltung stammt die wohl älteste von einem
französischen Altmeister unseres Fachs. Emile Male (1862-1954) veröffentlichte 1908 im
mehrfach nachgedruckten dritten Band seines Handbuchs über die religiöse Kunst des Mittel-
alters in Frankreich seinen oft zitierten Einfall: „tous ces morts semblent avoir trente-trois ans,
l’äge qu’avait Jesus-Christ quand il ressuscita, Läge qu'auront tous les hommes quand ils res-
susciteront comme lui“165.
In seinem kurzen Beitrag zur „Grabplastik“ bewies Georg Dehio (1850-1932)166 eine für
das frühe 20. Jahrhundert erstaunliche Kenntnis der Grabdenkmäler Deutschlands. Er sprach
wohl etwas verfrüht von „Bildnisfigur“ statt Grabfigur oder von „Bildnisgrab“ und „Bildnis-
gestalt des Toten“. Bildniszüge haben Grabfiguren kaum vor dem 14. Jahrhundert.167 * Dehio
wies als erster auf eine mögliche Anregung der seit dem späten 11. Jahrhundert auftretenden
„Grabbilder“ durch nordafrikanische Grabmosaiken hin. Interpretationen seiner Objekte ver-
mied er.
Einen Deutungsvorschlag wagte Ernst Borgwardt (1903-nach 1963) in seiner von Kurt
Bauch betreuten Dissertation von 193516S. Er befand, daß der auf einem Figurengrabstein
Dargestellte „in keiner konkreten physischen Situation befindlich, etwa liegend oder stehend,“
sei. Er stelle „lediglich das absolute Existenzbild ohne irgendwelche räumliche Beziehung
schlechthin dar.“169
Nach ihm kam Henriette s’Jacob (1898-1987) mit ihrer Dissertation170 von 1950, die 1954
in englischer Sprache - unzureichend bebildert - veröffentlicht wurde. Sie vermutete, daß
betende Hände von gotischen Grabbildem die Hoffnung, „to participate in the communion of
162 Jochen Luckhardt, Grabmal und Totengedächtnis Heinrichs des Löwen, in: Ders./Franz Niehoff, Heinrich der
Löwe und seine Zeit, 2. Essays, München 1995,283-291.
163 Bauch 1976, Abb. 166.
164 Yves Christe, Jugements demiers, Saint-Leger-Vauban 1997, 99, 106, 112, 162. Ein rätselhaftes Beispiel
findet man an der Innenfassade der Reimser Kathedrale, wo vielleicht Abraham dem „Ritter“ Melchisedek eine
Hostie reicht. Vgl. Donna L. Sadler, Reading the Reverse Fafade of Reims Cathedra! - Royalty and Ritual in
Thirteenth-Century France, Farnham 2012, Abb. 2.10.
165 Emile Mäle, L'Art Religieux de la Fin du Moyen Age en France, Paris 1908, 433f.
166 Georg Dehio, Geschichte der Deutschen Kunst, Berlin-Leipzig 1919,1, 178-184.
167 Gerhard Lutz/Rebecca Müller (Hg.), Die Bronze, der Tod, die Erinnerung - Das Grabmal des Wolfhard von
Roth im Augsburger Dom (Veröffentlichungen des Zentralinstituts für Kunstgeschichte in München 53), Passau
2020.
Ernst Borgwardt, Die Typen des mittelalterlichen Grabmals in Deutschland (Diss. Freiburg 1935), Schram-
berg 1939.
169 Borgwardt 1939, 23.
1,0 Henriette s’Jacob, Beschouwingen over christelijke grafkunst, Diss. Amsterdam 1950; Dies., Idealism and
Realism - A Study of Sepulchral Symbolism, Leiden 1954.
(t 1195)162, deren Grabmal mit 1240/45 wohl zu spät datiert wird. Das Gewand der Mathilde
ist offenkundig mit dem der betenden Quedlinburger Äbtissin Sophie von Brena (?)163 ver-
wandt, die schon 1226 starb.
XV.
Eine überzeugende Deutung der Gebetshaltung aus glatt aufeinander oder aneinander geleg-
ten Handflächen und Fingern bzw. Fingerspitzen liegt bislang nicht vor. Die Verstorbenen
sind als Liegefiguren dargestellt, die ihre Hände wie Lebende halten, die sich als „Betende“
mit offenen Augen an ein unsichtbares Gegenüber wenden. Es ist schwierig, sich vorzustellen,
daß ihre Handhaltung wegen der bald nach dem Ableben eintretenden Erschlaffung der Glie-
der von langer Dauer war. Doch findet man sie seit dem frühen 13. Jahrhundert bei vielen
auferstehenden oder auferstandenen Seligen auf den Stürzen der Weltgerichtsportale zahlrei-
cher Kathedralen.164
Von den bisherigen Deutungen dieser Gebetshaltung stammt die wohl älteste von einem
französischen Altmeister unseres Fachs. Emile Male (1862-1954) veröffentlichte 1908 im
mehrfach nachgedruckten dritten Band seines Handbuchs über die religiöse Kunst des Mittel-
alters in Frankreich seinen oft zitierten Einfall: „tous ces morts semblent avoir trente-trois ans,
l’äge qu’avait Jesus-Christ quand il ressuscita, Läge qu'auront tous les hommes quand ils res-
susciteront comme lui“165.
In seinem kurzen Beitrag zur „Grabplastik“ bewies Georg Dehio (1850-1932)166 eine für
das frühe 20. Jahrhundert erstaunliche Kenntnis der Grabdenkmäler Deutschlands. Er sprach
wohl etwas verfrüht von „Bildnisfigur“ statt Grabfigur oder von „Bildnisgrab“ und „Bildnis-
gestalt des Toten“. Bildniszüge haben Grabfiguren kaum vor dem 14. Jahrhundert.167 * Dehio
wies als erster auf eine mögliche Anregung der seit dem späten 11. Jahrhundert auftretenden
„Grabbilder“ durch nordafrikanische Grabmosaiken hin. Interpretationen seiner Objekte ver-
mied er.
Einen Deutungsvorschlag wagte Ernst Borgwardt (1903-nach 1963) in seiner von Kurt
Bauch betreuten Dissertation von 193516S. Er befand, daß der auf einem Figurengrabstein
Dargestellte „in keiner konkreten physischen Situation befindlich, etwa liegend oder stehend,“
sei. Er stelle „lediglich das absolute Existenzbild ohne irgendwelche räumliche Beziehung
schlechthin dar.“169
Nach ihm kam Henriette s’Jacob (1898-1987) mit ihrer Dissertation170 von 1950, die 1954
in englischer Sprache - unzureichend bebildert - veröffentlicht wurde. Sie vermutete, daß
betende Hände von gotischen Grabbildem die Hoffnung, „to participate in the communion of
162 Jochen Luckhardt, Grabmal und Totengedächtnis Heinrichs des Löwen, in: Ders./Franz Niehoff, Heinrich der
Löwe und seine Zeit, 2. Essays, München 1995,283-291.
163 Bauch 1976, Abb. 166.
164 Yves Christe, Jugements demiers, Saint-Leger-Vauban 1997, 99, 106, 112, 162. Ein rätselhaftes Beispiel
findet man an der Innenfassade der Reimser Kathedrale, wo vielleicht Abraham dem „Ritter“ Melchisedek eine
Hostie reicht. Vgl. Donna L. Sadler, Reading the Reverse Fafade of Reims Cathedra! - Royalty and Ritual in
Thirteenth-Century France, Farnham 2012, Abb. 2.10.
165 Emile Mäle, L'Art Religieux de la Fin du Moyen Age en France, Paris 1908, 433f.
166 Georg Dehio, Geschichte der Deutschen Kunst, Berlin-Leipzig 1919,1, 178-184.
167 Gerhard Lutz/Rebecca Müller (Hg.), Die Bronze, der Tod, die Erinnerung - Das Grabmal des Wolfhard von
Roth im Augsburger Dom (Veröffentlichungen des Zentralinstituts für Kunstgeschichte in München 53), Passau
2020.
Ernst Borgwardt, Die Typen des mittelalterlichen Grabmals in Deutschland (Diss. Freiburg 1935), Schram-
berg 1939.
169 Borgwardt 1939, 23.
1,0 Henriette s’Jacob, Beschouwingen over christelijke grafkunst, Diss. Amsterdam 1950; Dies., Idealism and
Realism - A Study of Sepulchral Symbolism, Leiden 1954.