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Wischermann, Heinfried; Wischermann, Heinfried [Hrsg.]
Berichte und Forschungen zur Kunstgeschichte (Band 19): "Milites Orantes": Überlegungen zur Form und zur Deutung der Gebetshaltung mittelalterlicher Ritter auf ihren Grabdenkmälern — Freiburg i. Br.: Heinfried Wischermann, 2024

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https://doi.org/10.11588/diglit.70526#0027
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Spätgotik. Die teilweise von einem Schleier bedeckte Liegefigur wendet sich mit geschlosse-
nen Augen (!) an den Weltenrichter mit den Worten: „In manus tuas domine commendo spiri-
tum meum. Reddemisti nie domine deus veritatis.“* * * * * * * * * * * * * * * * * 188 Dieser antwortet in teilweise noch alt-
französischen Worten: „Pour tes pechiez penitence feras. Au jour du jugement avecques moy
seras.“189
XVII.
Abschließend bietet sich die Frage nach dem Grund an, der die Mehrzahl der Ritter bewog,
ihrer Grabfigur das Aussehen eines lebenden Kämpfers zu geben. Sie erschienen so als
besonders männliche, kampfbereite Mitglieder ihres Standes. Mit Schwert und Lanze waren
sie bewaffnet, von Kettenpanzer, Schild und Helm geschützt. Ein Wappenrock schmückte und
identifizierte sie wie die Inschrift. Ohne Zweifel waren sie als Mitglied der Ritterschaft an
ihren Wappen, ihrer Helmzier und ihren Fahnen eher erkennbar als an ihrer Gebetshaltung
und der Inschrift ihrer Grabsteine. Die ältesten nachweisbaren Grabfiguren ihre Waffen prä-
sentierender Ritter stammen in Frankreich 190 wie in England191 aus dem frühen 13. Jahrhun-
dert. Die beiden Rittergräber in Marienfeld/NW sind vom Ende des 13. Jahrhunderts, wohin
sie Kurt Bauch192 noch setzte, von Gabriele Böhm193 in die Zeit „bald nach 1230“ vorgezogen
worden, was durchaus wahrscheinlich ist. Setzt sich diese Frühdatierung durch, könnte
Deutschland das Schlußlicht an Italien194 abgeben.
Im fortgeschrittenen 11. Jahrhundert muß die Kirche beschlossen haben, einige kluge Köpfe
damit zu beauftragen, die weitgehend ungebändigten Reiterkämpfer zu vereinnahmen. So
entstand eine kirchliche Denkfabrik195. Deren Strategie, die „milites rapaces“ zu „milites
christiani“ zu machen, indem man sie verstärkt zum Schutz der Kirche, der Witwen und Wai-
sen, zum Kampf gegen Ungläubige, Ketzer und Kirchenfeinde sowie zur Vermeidung von
Fehden verpflichtete, war genial: Die Kirche schaltete sich dauerhaft in den Aufstieg der
Knappen zu Rittern mit religiösen Handlungen und der Verbreitung der genannten ethischen

Psalms verstärkt den Eindruck, daß die Figur lebt und redet. Wie in den meisten Stundenbüchem ist auch in
diesem das Totenoffizium als eine Folge aus Psalmen und Lesungen der letzte liturgische Text. Ihm folgen noch
die Fürbitten/sufffagia, die an verschiedene Heilige gerichtet sind. Vgl. Eberhard König, Die Grandes Heures de
Rohan - Eine Hilfe zum Verständnis des Manuscrit latin 9471 der Bibliotheque Nationale de France, Simbach
am Inn 2006.
Die lateinische Anrede ist der Psalm 30,6 (31). Teile von ihr begegnen im Reimgebet „Ad completorium“ aus
dem „Officium Defunctorum“. Vgl. Guido Maria Dreves, Pia Dictamina - Reimgebete und Leselieder des Mit-
telalters, in: Clemens Blumc/Guido M. Dreves, Analecta Hymnica, Leipzig 1898, XXX, 174. Der vollständige
Text auf dem Band des Sterbenden ist auf der Grundlage des genannten Psalms in der Spätgotik in die „Preces
Vespertinae“ aufgenommen worden. Vgl. Johannes Alois Kaltner, Functionarium catholicum - Ein umfassendes
Handbuch für Geistliche namentlich am Kranken- und Sterbebette, Schaffhausen 1856, 154. Den „Redemisti“-
Aufruf verwandte Augustinus in seinem Psalmenkommentar: Enarratio in Psalmum XXX: Migne PL 36 (1865)
227.
*” Altfranzösisch sind beispielsweise die Worte „pechiez“ und „penitence“, vgl. Tobler/Lommatzsch, Altfranzö-
sisches Wörterbuch; „Au jour" heißt altfranzösisch noch „au jor“. Für die Worte Christi ist keine Vorlage be-
kannt.
199 Zu französischen Rittern in Rüstung vgl. Adhdmar 1974, Nr 21 ff 1150, Sonderfall aus Metall); Nr. 51 (t
nach 1204), Nr. 58-60, 120-134, 140-148. Es ist wenig erfreulich, daß sich noch kein Kunsthistoriker daran ge-
wagt hat, die Gaignieres-Ritter in eine chronologische Folge zu bringen. Dabei müßte man natürlich alle in
Frankreich erhaltenen Ritterfiguren (Beispiele bei Hurtig 1979, Abb. 5-98) in die Folge einbauen.
191 Zu englischen Rittern in Rüstung vgl. Hurtig 1979, Abb. 177-192.
m Bauch 1976, 133, Abb. 212.
193 Böhm 1993,83-90.
19,1 Vgl. Kurt Bauch, Anfänge des figürlichen Grabmals in Italien, in: Mitteilungen des Kunsthistorischen Institu-
tes in Florenz 15 (1971)227-258; Bauch 1976, 139f.
195 Man könnte sie „fabrica religiosa cogitandi“ nennen. Sie war eine Vorläuferin der Denkfabriken, die man
heute Thinktank oder Brainstore nennt.
 
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