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DER KLASSISCHE MENSCH

kümmert das Organ für den tiefen, unüberbrückbaren
Dualismus des Seins. Das Leben wird schöner, freudiger,
aber es verliert an Tiefe, Grösse und Dynamik. Denn der
Mensch hat in wachsender Erkenntnissicherheit sich zum
Mass aller Dinge gemacht, hat die Welt seiner kleinen Mensch-
lichkeit assimiliert.
Er empfindet die Welt nicht mehr als ein ihm Fremdes,
Unzugängliches, Mystisch-Grosses, sondern als die lebendige
Ergänzung seines eignen Ichs, er sieht in ihr, wie Goethe
sagt, die antwortenden Gegenbilder der eignen Empfindungen.
Die dumpfe instinktive Erkenntniskritik des primitiven Men-
schen weicht einem freudigen, selbstbewussten Erkenntnis-
glauben, und aus dem starren Furchtverhältnis der Frühzeit
wird nun ein inniges Vertraulichkeitsverhältnis zwischen
Mensch und Welt, das mannigfache bisher gehemmte Kräfte
der Seele freimacht und besonders der Kunst eine ganz
andere Funktion gibt.
An diesem Punkte des Gleichgewichts zwischen Instinkt
und Verstand steht der klassische Mensch, dessen klarstes
Paradigma der griechische Mensch ist, wie er sich über die
wirklichen Tatsachen vielleicht hinaus als Ideal in unserer
Vorstellung gebildet hat. Er ist das monumentale Muster-
beispiel für das zweite entscheidende Stadium in dem grossen
Auseinandersetzungsprozess von Mensch und Aussenwelt,
der die Weltgeschichte ausmacht.
Mit dem klassischen Menschen erlischt der absolute
Dualismus von Mensch und Aussenwelt, erlischt infolgedessen
auch der absolute Transzendentalismus von Religion und
Kunst. Das Göttliche wird seiner Jenseitigkeit entkleidet,
es wird verweltlicht, wird ins Diesseits einbezogen. Für den
klassischen Menschen ist das Göttliche nicht mehr ein Äusser-
weltliches, nicht mehr eine transzendentale Vorstellung,
sondern ihm ist es in der Welt enthalten, durch die Welt
verkörpert.
Mit diesem Glauben des Menschen an die unmittelbare
göttliche Immanenz in allem Geschaffenen, dieser Voraus-
setzung eines weltfreudigen Pantheismus, ist der Anthro-
pomorphisierungsprozess der Welt auf seinen Höhepunkt
gelangt. Denn e r ist es, der sich hinter dieser Vergöttlichung
der Welt verbirgt. Die nun erreichte ideelle Einheit von Gott
 
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