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DER BAUGEDANKE DER KLASSIK 6l
es mag hier schon gesagt sein, dass der gotische Formwille
sich in dieser seiner höchsten Kraftleistung ausgegeben und
totgelaufen hat; nur so erklärt sich die Ohnmacht gegenüber
der Invasion des fremden Kunstideals der Renaissance.
Durch die absolute Vorherrschaft der Architektur in
der Gotik finden wir also bestätigt, was uns schon die Analyse
der nordischen Ornamentik über die Natur des gotischen
Formwillens ausgesagt hat. Denn da die Sprache der Archi-
tektur eine abstrakte ist, da die Gesetzlichkeiten ihres Auf-
baus von aller organischen Gesetzlichkeit entfernt, vielmehr
abstrakter mechanischer Natur sind, so sehen wir in der
gotischen Hinneigung zum architekturalen Sich-Ausdrücken
nur eine Parallele zur Ornamentik, die, wie wir sahen, vom
Eigenausdruck, d. h. dem mechanischen Ausdruckswert der
Linie, also auch von abstrakten Werten beherrscht wird.
Ornamentik und Architektur spielen also in der Gotik
die ausschlaggebende Rolle. Sie allein gewähren durch die
Natur ihrer Ausdrucksmittel eine dem Formwillen adäquate
künstlerische Manifestation. Bei Plastik, Malerei und Zeich-
nung liegt schon eine gewisse Gefahr für die reine Doku-
mentierung des Form willens vor; ja, hier sind innere An-
knüpfungspunkte für die Betätigung des klassischen Form-
willens vorhanden, die es erklärlich erscheinen lassen, dass
die Herrschaft der Renaissance von hier aus Terrain gewann
und den alten Formwillen entrechtete.
Die Ausdruckstendenzen, die das Spiel abstrakter Linien
in der Ornamentik so eigenartig abwandelten, sie müssen
auch für die gotische Architektur massgebend gewesen sein.
Eine Untersuchung über das Wesen der gotischen Architektur
soll diese Behauptung vertreten. Und als Gegenbeispiel
werden wir uns immer die klassische Architektur gegenwärtig
halten, denn sie zeigt uns die Gegenerscheinung, wie ein
Formwille, der sich seiner Natur nach organisch und nicht
abstrakt ausdrücken muss, die Abstraktheit der architektu-
ralen Ausdrucksmittel überwindet.
Denn die Welt des Architektonischen ist weit, und so
eng die Gesetze der Architektus sind und ihre Ausdrucks-
mittel, so weit und unbegrenzt sind ihre Ausdrucksmöglich-
keiten. Wohl sind die Gesetze aller Architektur dieselben,
nicht aber der durch die Anwendung dieser Gesetze erreichte
 
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