HO
ÄUSSERER AUFBAU DER KATHEDRALE
schiffe, wie sie durch die gotische Betonung des Mittelschiffes
verlangt wurden, nicht mehr zur Aufr ahme der Stützglieder
herangezogen werden konnten, führte zu einer frei in der Luft
über die Seitenschiffe hinwegragenden Verstrebung, d. h.
zu einer ganz ausgesprochenen Sichtbarmachung der statischen
Einzelkräfte, die die Struktur des ganzen Baues ausmachen.
Mit einer grossen energischen Geste überträgt der Strebe-
bogen den Gewölbeschub des Mittelsc iffs auf die massiven
Strebepfeiler der Seitenschiffe. Um diesen die Widerstands-
festigkeit gegen den seitlich auf sie zukommenden Druck der
Last zu erleichtern, werden sie von oben her du'rch Fialen
belastet. Der konstruktive Sinn dieses Verstrebungssystemes
lässt sich also nur dann begreifen, wenn man es in der Rich-
tung von oben nach unten hin verfolgt. Für den ästhetischen
Eindruck aber ist der umgekehrte Weg massgebend, der Weg
von unten nach oben. Wir sehen, wie aus den Kraftreservoirs
der Strebepfeiler die himmelstrebenden Energien sich los-
lösen, um in mächtiger mechanischer Kraftentfaltung das
Ziel der Höhe zu erreichen. Diese Bewegung von den Strebe-
pfeilern aus über die Strebebögen zur Mittelschiffüberhöhung
ist von einer zwingenden mimischen Kraft. Alle Mittel werden
aufgeboten, um den Betrachter zu dieser ästhetischen Auf-
fassung des Verstrebungssystems zu zwingen, die der kon-
struktiven entgegengesetzt ist. So wirken die Fialen nicht
als eine Belastung der Strebepfeiler, sondern als ein frei-
gewordener Kraftüberschuss derselben an Höhendrang, der
ungeduldig schon zur Höhe schiesst, ehe das eigentliche Ziel
der Höhenentwicklung erreicht ist. Durch dieses gleichsam
vergebliche Sichaufbäumen der Kraft in den Fialen erhält
dann die nach dieser Verzögerung sicher durchgreifende,
zielbewusste Bewegung des Strebebogens eine noch wuchtigere
und überzeugendere Ausdruckskraft.
Während rein konstruktiv die Sache so liegt, dass die
Geheimnisse der freien elastischen, konstruktiv unbegreif-
lichen Bildung des gotischen Innenraums sich dem Heraus-
tretenden in einem mühsamen Stützen- und Krückenwerk
verraten, auf die der Bau sich lehnen muss, um seine Raum-
künste aufzuführen, während also in konstruktiver Hinsicht
der Aussenbau wie eine ernüchternde Demaskierung der
verblüffenden Innenraumgestaltung wirkt, ist der ästhetische
ÄUSSERER AUFBAU DER KATHEDRALE
schiffe, wie sie durch die gotische Betonung des Mittelschiffes
verlangt wurden, nicht mehr zur Aufr ahme der Stützglieder
herangezogen werden konnten, führte zu einer frei in der Luft
über die Seitenschiffe hinwegragenden Verstrebung, d. h.
zu einer ganz ausgesprochenen Sichtbarmachung der statischen
Einzelkräfte, die die Struktur des ganzen Baues ausmachen.
Mit einer grossen energischen Geste überträgt der Strebe-
bogen den Gewölbeschub des Mittelsc iffs auf die massiven
Strebepfeiler der Seitenschiffe. Um diesen die Widerstands-
festigkeit gegen den seitlich auf sie zukommenden Druck der
Last zu erleichtern, werden sie von oben her du'rch Fialen
belastet. Der konstruktive Sinn dieses Verstrebungssystemes
lässt sich also nur dann begreifen, wenn man es in der Rich-
tung von oben nach unten hin verfolgt. Für den ästhetischen
Eindruck aber ist der umgekehrte Weg massgebend, der Weg
von unten nach oben. Wir sehen, wie aus den Kraftreservoirs
der Strebepfeiler die himmelstrebenden Energien sich los-
lösen, um in mächtiger mechanischer Kraftentfaltung das
Ziel der Höhe zu erreichen. Diese Bewegung von den Strebe-
pfeilern aus über die Strebebögen zur Mittelschiffüberhöhung
ist von einer zwingenden mimischen Kraft. Alle Mittel werden
aufgeboten, um den Betrachter zu dieser ästhetischen Auf-
fassung des Verstrebungssystems zu zwingen, die der kon-
struktiven entgegengesetzt ist. So wirken die Fialen nicht
als eine Belastung der Strebepfeiler, sondern als ein frei-
gewordener Kraftüberschuss derselben an Höhendrang, der
ungeduldig schon zur Höhe schiesst, ehe das eigentliche Ziel
der Höhenentwicklung erreicht ist. Durch dieses gleichsam
vergebliche Sichaufbäumen der Kraft in den Fialen erhält
dann die nach dieser Verzögerung sicher durchgreifende,
zielbewusste Bewegung des Strebebogens eine noch wuchtigere
und überzeugendere Ausdruckskraft.
Während rein konstruktiv die Sache so liegt, dass die
Geheimnisse der freien elastischen, konstruktiv unbegreif-
lichen Bildung des gotischen Innenraums sich dem Heraus-
tretenden in einem mühsamen Stützen- und Krückenwerk
verraten, auf die der Bau sich lehnen muss, um seine Raum-
künste aufzuführen, während also in konstruktiver Hinsicht
der Aussenbau wie eine ernüchternde Demaskierung der
verblüffenden Innenraumgestaltung wirkt, ist der ästhetische