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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 2.1907

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Tumarkin, Anna: Ästhetisches Ideal und ethische Norm
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https://doi.org/10.11588/diglit.3530#0177
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ÄSTHETISCHES IDEAL UND ETHISCHE NORM. 173

sein Endziel erreichend, weil er kein anderes Ziel außerhalb des
momentanen Erlebnisses hat, ist das Ideal nicht bloß Idee, sondern
Wirklichkeit: Ideal und Wirklichkeit decken sich miteinander. Daher
auch die verschiedene Stellung des Menschen dem ethischen und dem
ästhetischen Ideal gegenüber: das ethische oder auch das religiöse
Ideal steht über dem Menschen, ihm ordnet sich der Mensch unter,
indem er sich selbst darnach schätzt, wie weit er von diesem Ideal
entfernt ist; das ästhetische Ideal hat keinen anderen Wert als den
Beifall des Menschen, es steht nicht über ihm, sondern neben ihm,
besser in ihm J); es übt keinen Zwang auf den Menschen aus, stellt
keine Forderung an ihn, wie das ethische Ideal, es verlangt nicht, daß
man ihm gehorche und folge, es tritt dem Einzelnen nur entgegen,
damit er Freude daran habe.

Daher das Gefühl der Freiheit dem Schönen gegenüber: da ist
etwas Wertvolles, das unsere Zustimmung erweckt, ohne an uns
seinerseits eine Forderung zu stellen. Auch auf dem ethischen Ge-
biete gibt es eine Freiheit, aber die sittliche Freiheit empfinden wir
nicht dem ethischen Ideal gegenüber — diesem gegenüber sind wir
nicht frei, sondern bestimmt; die sittliche Freiheit empfinden wir im
Namen des Ideals dem gegenüber, was sich ihm entgegensetzt, den
äußeren Umständen, den eigenen sinnlichen Trieben gegenüber. Und
ferner: das Gefühl der ethischen Freiheit entsteht nur im Gegensatz,
als Reaktion gegen das ebenfalls vorhandene Gefühl des äußeren und
als solchen empfundenen Zwanges, es ist das negative Gefühl des
sich nicht zwingen Lassens. Beim ästhetischen Verhalten fällt das
Gefühl des Zwanges überhaupt fort: wir haben das Bewußtsein von
etwas Wertvollem, ohne unseren Wert daran zu messen, denn es
hat seinen Wert erst von uns bekommen; wir dürfen genießen, ohne
uns durch den Genuß irgendwie zu verpflichten, wir sehen ein Ideal
vor uns, ohne daß dadurch uns unsere Mängel, unsere Unvollkommen-
heiten zum Bewußtsein gebracht würden, denn dieses Ideal ist ein
Spiegel unseres eigenen Inneren.

') Vgl. R. Steck, »Kultus und Kunstgenuß«, Schweizerische Reformblätter, April
1902.
 
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