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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 2.1907

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Simon, Karl: Seitenansicht und Vorderansicht
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https://doi.org/10.11588/diglit.3530#0419
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SEITENANSICHT UND VORDERANSICHT. 415

allgemeinen, und zur Abstraktion auch von der Farbe, der Mangel an
eigentlich malerischem Empfinden und dafür die Vorliebe für das
Plastische, die auch mit dem Kultus der Antike zusammenhängt: all
das läßt diese Vorliebe begreiflich erscheinen. Nicht zum wenigsten
auch die dilettantische Technik. So sind z. B. Carstens' Bildnisse
immer im Profil gezeichnet. Aber auch sonst spielt das Profil, und
nicht nur in Deutschland, in Malerei, Stich und Zeichnung eine über-
aus große Rolle; auch beim Frauenbildnis, »welches doch für manchen
anmutigen weiblichen Kopf eine strenge Probe bleibt, welche heutigen
Tages jedermann sich verbitten würde« (Jak. Burckhardt). Man ver-
gleiche für England das Profil der Lady Child von Reynolds, für
Frankreich das einer Lesenden von Fragonard, für Deutschland das
der Dichterin Christine von Westfalen von W. Tischbein.

Es ist vielleicht kein Zufall, daß David d'Angers, dessen Äußerung
vorhin angeführt wurde, gerade dieser Zeit angehört. Im übrigen ist
das 19. Jahrhundert wohl dasjenige, das am wenigsten sich auf irgend
eine besondere Vorliebe in dieser Beziehung festgelegt hat; auch hier
greift es frei wählend in den Schatz der allmählich ausgebildeten Mög-
lichkeiten, die in sich wechseln, deren entsprechende ästhetische Wir-
kungen aber immer dieselben bleiben.

Die strenge Profilansicht, die von einer direkten Beziehung zum
Beschauer völlig absieht, hat ihren Platz in der zusammengesetzten
Komposition, deren Glieder sich in aufeinander wirkender Aktion be-
finden. Für das in die Breite sich erstreckende erzählende Relief ist
sie die gegebene Darstellungsform. Im eigentlichen Bildnis gibt sie
das Wesentlichste des architektonischen Gerüsts. Die strenge Vorder-
ansicht mit ihrem unmittelbaren Bezug zum Beschauer, mit ihrer nichts
verheimlichenden Deutlichkeit kann, wenn nicht mit großer Vornehm-
heit behandelt, leicht aufdringlich und grob wirken; und so finden
wir sie bei weitem seltener als die Seitenansicht. In der freien Kompo-
sition bleibt ihr mächtigste Wirkung gesichert.

Natürlich stimmt der historische Verlauf oft nicht mit dem überein,
was logisch-ästhetisch als das Gegebene erscheinen könnte. Die Fülle
individuellen Lebens spottet aller einengenden Konstruktion.

Zweifellos ist aber eine Beobachtung der Rolle, die Profil und Face
in der Kunst der verschiedenen Zeiten und Völker spielen, in hohem
Maße aufschlußreich für das innerste Verhältnis dieser Faktoren zu
Natur und Kunst. Das Nähere muß indessen einer eindringenden
historischen Analyse vorbehalten bleiben, die nicht erfolgen kann ohne
das Heranziehen eines umfangreichen Materials. Hier sollten nur einige
Grundlinien dafür gezogen werden.
 
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