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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 2.1907

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https://doi.org/10.11588/diglit.3530#0422
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418 BESPRECHUNGEN.

gegen diejenige, die danach nicht fragt« (S. 35). Ebenso bleibt die Betrachtung
gegenüber dem sinnlichen Faktor des ästhetischen Gegenstandes diesseits der Wirk-
lichkeitsfrage. Diesen Sachverhalt, den man auch damit bezeichnet, daß der Gegen-
stand »Schein«, »Erscheinung« oder »Bild« sei, nennt Lipps »ästhetische Idealität«.
Damit ist zugleich die »ästhetische Isoliertheit« des Gegenstandes gegeben.
Eine Folge der Unbestrittenheit insbesondere des ästhetischen Inhalts von Seiten der
Wirklichkeitsfrage ist die »ästhetische Objektivität«. Lipps erläutert sie an
der Dichtung, wobei er zur Frage der Bedeutung der Annahmen, Urteile und Urteils-
gefühle in ablehnendem Sinne Stellung nimmt. Die Objektivität »ist damit gegeben,
nicht daß der Dichter urteilt, sondern daß er nicht urteilt; positiv gesagt, daß er
darstellt, d. h. einfach vor mich hinstellt; daß es demgemäß keinen Sinn hat zu
fragen, ob die dichterische Aussage ,wahr', nämlich im Sinne der historischen Aus-
sage wahr sei« (S. 44).

Das fraglose Dasein des ästhetischen Inhalts ermöglicht nun die volle Hingabe
des Betrachters an denselben, das volle Erleben, das die zweite Bedingung des
ästhetischen Genusses ist. Lipps nennt das die »ästhetische Realität«. Obwohl
der erlebte Inhalt ganz in sich beschlossen bleibt, ist er doch nicht weniger real
als das sonst Erlebte. Damit werden die »Phantasiegefühle« oder »Scheingefühle«
abgewiesen. Anderseits wehrt der Verfasser den Einwurf, daß das Erleben von
Ernstgefühlen, z. B. der Rührung, pathologisch sei, durch folgende Überlegung ab.
Die ästhetische Einfühlung »ist in ihrem letzten Grunde allemal das Erleben eines
Menschen« (S. 49). Der beste Weg zu dieser Tiefe des Einfühlens ist die negative
Einfühlung, nämlich die Einfühlung in Schmerzliches und Trauriges. Bleibt die
Betrachtung jedoch in dem Negativen stecken (Rührung), gelangt sie nicht in die
Tiefe zum vollen Menschen, zu dem nicht nur Erleiden, sondern auch Charakter,
Wollen und Tun gehört, so ist das ein einseitiges, unvollständiges, nicht ein zu
volles Erleben. Es ist also damit, daß Rührung kein ästhetisches Verhalten ist,
nichts gegen die Realität der ästhetischen Gefühle bewiesen1).

Die Untersuchung geht nun im besonderen zur ästhetischen Betrachtung des
Kunstwerks über. Das Naturschöne und das Kunstschöne sind im Grunde das-
selbe, dieses begünstigt die ästhetische Betrachtung aber mehr als jenes, weil sie
bei ihm die von selbst gebotene ist. In den wiedergebenden Künsten muß noch
eine besondere Bedingung erfüllt werden: weil diese Künste Wirkliches darstellen
und dasselbe auf Grund der Erfahrung zum Symbol eines Inhalts geworden ist,
müssen sie diese Symbole der Wirklichkeit entsprechend darstellen und in der Dar-
stellung auch dem Zusammenhange, den Gesetzen der Wirklichkeit folgen. Das
Dargestellte muß »ästhetische Wahrheit« haben, damit nicht die Frage nach
der Wirklichkeitsgemäßheit entsteht und das unbestrittene Dasein des Darge-
stellten für uns stört. Darin liegt die — lediglich negative — Bedeutung der ästhe-
tischen Wahrheit für den Betrachter. (Diese Bedeutung ist wohl noch nie so sicher
erfaßt und so treffend bezeichnet worden wie hier von Lipps.) Aus derselben er-
gibt sich auch das Verhältnis von ästhetischer und historischer Wahrheit. Es kommt
darauf an, daß in uns nicht die Erwartung entsteht, daß das Dargestellte unserem
Wissen von den geschichtlichen Zusammenhängen gemäß sei. »Diese Erwartung
aber ist von zwei Faktoren abhängig. Einmal von der Sicherheit dieses Wissens,
von dem Grade, in welchem uns dies Wissen in Fleisch und Blut übergegangen

') Diese Auseinandersetzungen über ästhetische Realität und Tiefe finden sich
auch in dem Aufsatze Lipps' »Weiteres zur Einfühlung«. (Archiv für die gesamte
Psychologie, IV. Bd., 4. Heft.)
 
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