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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 2.1907

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Dessoir, Max: Skeptizismus in der Ästhetik
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https://doi.org/10.11588/diglit.3530#0453
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XVI.

Skeptizismus in der Ästhetik.

Von

Max Dessoir.

1.

Unter Skeptizismus verstehe ich nicht ein leichtfertiges Spiel mit
wissenschaftlichen Einsichten und Verfahrungsweisen, sondern den
ernsthaften Zweifel an der Möglichkeit eindeutiger Wahrheiten, allge-
mein gültiger Theorien, umfassender Systeme. Und zwar in diesem
Fall innerhalb der Ästhetik und allgemeinen Kunstwissenschaft.

Der geschichtliche Ort einer solchen Skepsis ist eine bestimmte
Lage des wissenschaftlichen Geistes überhaupt oder wenigstens eines
Teils der Wissenschaften. Sie ist gerechtfertigt in Zeiten, wo die vor-
handenen Denkmittel, zumal die Leitsätze und Verfahrungsweisen, für
die irgendwie veränderten Bedürfnisse des Erkennens nicht ausreichen
oder — was Grund wie Folge dieses Umstandes sein kann — gegen-
über den zahlreicher und tiefer gewordenen Problemen sich als un-
genügend erweisen. Allerdings werden unter Verhältnissen dieser Art
auch andere Auskunftsmittel ergriffen. Oft entsteht ein Eklektizismus,
der die vorhandenen Schwierigkeiten und Widersprüche durch eine
Auswahl aus verschieden gefärbten Einsichten der Vergangenheit über-
tüncht; gelegentlich läßt man die Wissenschaft auf eine Methodologie
zusammenschrumpfen, indem man glaubt, die Arbeit könne nicht eher
mit Erfolg fortgesetzt werden, als bis der Aufgabenkreis der Disziplin
sicher umgrenzt und das richtige Verfahren festgesetzt ist. Aber der
Skeptizismus ist doch wohl die natürlichste und fruchtbarste Folge
der bezeichneten geschichtlichen Lage.

Somit fehlt er auch in der Gegenwart nicht. Denn die ganze
Kultur unserer Zeit entbehrt der großen Linien und der letzten
Sicherheiten. Das gilt von Religion und Philosophie, Kunst und
Wissenschaft. In allen diesen Betätigungskreisen fühlt der moderne
Mensch sich unfähig zu einer einfachen Formel. Mir scheint, daß die
Philosophen, die aus dem Geist der Gegenwart heraus denken und
schaffen, mit zu viel neuen und immer wechselnden Erfahrungen
kämpfen müssen, zu viele Möglichkeiten erblicken und zu wenig

Zeitschr. f. Ästhetik u. allg. Kunstwissenschaft. II. 29
 
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