KUNSTWISSENSCHAFT UND VÖLKERPSYCHOLOGIE. 471
selbst einen gesetzmäßigen, trotz mancher Variationen allgemein gültigen
Charakter besitzt. Mit dem Namen »Zierkunst« will Wundt (104) alle
diejenigen Betätigungen der Phantasie (?) bezeichnen, die anscheinend
aus dem Streben nach Schmuck hervorgegangen sind, sei es nun, daß
dasselbe von Anfang an für die künstlerische Tätigkeit maßgebend war,
sei es, daß es sich, was für die meisten Fälle wahrscheinlich zutreffe,
erst aus anderen, teils praktischen, teils mythologischen Motiven ent-
wickelt hat. Der früheste Schmuck entstehe nicht sowohl, weil der
Mensch sich und seine Umgebung zu schmücken wünsche, sondern
weil Gebilde seiner Hand, die er ohne solche Absicht geschaffen, seine
Freude erregen. — Und welche Gebilde sind dies? fragen wir. Solche,
die unmittelbar als das frei geschaffene Produkt des eigenen Willens
empfunden werden, weil sie eine einfache Regelmäßigkeit besitzen,
die dem Gegenstand der Natur, den sie nachbilden (!), fehlt. Die ein-
fache Regelmäßigkeit also — müssen wir schließen —, die der Mensch
in eigenen Gebilden (ob im Einklang mit der Natur oder im Wider-
spruch zu ihr, ist hier nicht entscheidend) hervorbringt, sie gewährt
die Freude; sie ist die Ursache des Wohlgefallens und der weiteren
Verwendung solcher Erzeugnisse, und sie befriedigt, weil sie als Produkt
des eigenen Willens empfunden wird. Wir sollten vielleicht sagen:
weil sie im Einklang steht mit der Organisation des Menschen und
mit dem Vollzug seines Wollens.
Mit jener Annahme Wundts wird jedoch der Schmuck, bezw. die
Zierkunst, hinter die Entstehung der bildenden Kunst als solcher, näm-
lich der darstellenden, hinausgeschoben. Das ohne Absicht auf Schmuck
geschaffene Bild ist das notwendige Prius, das vorausgesetzt wird.
»Erst nachdem es entstanden ist, wird es zum Schmuck — und unter-
liegt nun als solcher weiteren willkürlichen Umgestaltungen.« Ja, selbst
der Trieb nach Schmuck ist keine in den Menschen gelegte angeborene
Kraft, die ohne äußere Ursachen wirken könnte, sondern er bedarf der
äußeren Reize, die ihn auslösen (105). Darin liegen die Gründe, wes-
halb Wundt die Zierkunst erst als dritte Entwickelungsstufe nach der
»Augenblickskunst« und der »Erinnerungskunst« aufführt, obgleich sie
eingestandenermaßen in ihrem Ursprünge bis in die Anfänge bildender
Kunst überhaupt zurückreichen mag.
Fragen wir nach diesem ihrem Ursprünge weiter, so erfahren wir,
daß jene äußeren Reize, die den Trieb nach Schmuck hervorlocken und
entwickeln, nur in verschwindendem Maße in Objekten bestehen, welche
die Umgebung selbst darbietet, sondern erst in solchen, die der Mensch
selbst hervorbringt, oder denen er mindestens ihre Form gibt, so daß
er in ihnen Produkte seines eigenen Schaffens sehen kann. Mit gutem
Grunde wird die Macht über das Material als Quelle der Genugtuung
selbst einen gesetzmäßigen, trotz mancher Variationen allgemein gültigen
Charakter besitzt. Mit dem Namen »Zierkunst« will Wundt (104) alle
diejenigen Betätigungen der Phantasie (?) bezeichnen, die anscheinend
aus dem Streben nach Schmuck hervorgegangen sind, sei es nun, daß
dasselbe von Anfang an für die künstlerische Tätigkeit maßgebend war,
sei es, daß es sich, was für die meisten Fälle wahrscheinlich zutreffe,
erst aus anderen, teils praktischen, teils mythologischen Motiven ent-
wickelt hat. Der früheste Schmuck entstehe nicht sowohl, weil der
Mensch sich und seine Umgebung zu schmücken wünsche, sondern
weil Gebilde seiner Hand, die er ohne solche Absicht geschaffen, seine
Freude erregen. — Und welche Gebilde sind dies? fragen wir. Solche,
die unmittelbar als das frei geschaffene Produkt des eigenen Willens
empfunden werden, weil sie eine einfache Regelmäßigkeit besitzen,
die dem Gegenstand der Natur, den sie nachbilden (!), fehlt. Die ein-
fache Regelmäßigkeit also — müssen wir schließen —, die der Mensch
in eigenen Gebilden (ob im Einklang mit der Natur oder im Wider-
spruch zu ihr, ist hier nicht entscheidend) hervorbringt, sie gewährt
die Freude; sie ist die Ursache des Wohlgefallens und der weiteren
Verwendung solcher Erzeugnisse, und sie befriedigt, weil sie als Produkt
des eigenen Willens empfunden wird. Wir sollten vielleicht sagen:
weil sie im Einklang steht mit der Organisation des Menschen und
mit dem Vollzug seines Wollens.
Mit jener Annahme Wundts wird jedoch der Schmuck, bezw. die
Zierkunst, hinter die Entstehung der bildenden Kunst als solcher, näm-
lich der darstellenden, hinausgeschoben. Das ohne Absicht auf Schmuck
geschaffene Bild ist das notwendige Prius, das vorausgesetzt wird.
»Erst nachdem es entstanden ist, wird es zum Schmuck — und unter-
liegt nun als solcher weiteren willkürlichen Umgestaltungen.« Ja, selbst
der Trieb nach Schmuck ist keine in den Menschen gelegte angeborene
Kraft, die ohne äußere Ursachen wirken könnte, sondern er bedarf der
äußeren Reize, die ihn auslösen (105). Darin liegen die Gründe, wes-
halb Wundt die Zierkunst erst als dritte Entwickelungsstufe nach der
»Augenblickskunst« und der »Erinnerungskunst« aufführt, obgleich sie
eingestandenermaßen in ihrem Ursprünge bis in die Anfänge bildender
Kunst überhaupt zurückreichen mag.
Fragen wir nach diesem ihrem Ursprünge weiter, so erfahren wir,
daß jene äußeren Reize, die den Trieb nach Schmuck hervorlocken und
entwickeln, nur in verschwindendem Maße in Objekten bestehen, welche
die Umgebung selbst darbietet, sondern erst in solchen, die der Mensch
selbst hervorbringt, oder denen er mindestens ihre Form gibt, so daß
er in ihnen Produkte seines eigenen Schaffens sehen kann. Mit gutem
Grunde wird die Macht über das Material als Quelle der Genugtuung