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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 2.1907

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https://doi.org/10.11588/diglit.3530#0595
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BESPRECHUNGEN. 591

Ich habe die Inhaltsangabe wortgetreu hierher gesetzt, weil ich glaube, auf diese
Weise am ehesten zum Verständnis dessen zu führen, was Dalcroze eigentlich be-
zweckt: »die Vervollkommnung der Kraft und der Geschmeidigkeit der Muskeln in
den Proportionen von Raum und Zeit (Musik und Plastik)«. Der ganze Körper ist
ihm das Mittel, den Rhythmus zu verwirklichen.

Die rhythmische Gymnastikmethode bildet den ersten Teil der vollständigen
Methode Dalcrozes, deren Endziel auf umfassendste musikalische Ausbildung des
Individuums gerichtet ist. Welche Ergebnisse er tatsächlich erzielt, kann erst die
Erfahrung lehren, so viel aber ist sicher, daß seine rhythmische Gymnastik einen
hohen erzieherischen Wert hat, im wahrhaft ästhetischen Sinne, und keineswegs
etwa nur für Musikbeflissene in Frage kommt. Man möchte vielmehr wünschen,
sie zur Grundlage aller bewußten Menschenerziehung, zum Gemeingut weitester
Kreise machen zu können. Die Gesamtmethode Dalcrozes als Fachstudium dürfte
berufen sein, uns den Idealmusiker der Zukunft zu schaffen. Von seinem musika-
lischen Standpunkt ausgehend (dem Wort wünscht Dalcroze den griechischen Sinn,
welcher Wort und Bewegung verbindet, beigelegt) begründet er seine Methode auf
folgende Elementargrundsätze:

1. Jeder Rhythmus ist Bewegung.

2. Jede Bewegung ist materiell.

3. Jede Bewegung braucht Raum und Zeit.

4. Raum und Zeit sind durch die Materie verbunden, welche sie in ewigem
Rhythmus durchzieht.

5. Die Bewegungen der kleinen Kinder sind rein physisch und unbewußt.

6. Es ist die körperliche Erfahrung, welche das Bewußtsein bildet.

7. Die Vervollkommnung der physischen Mittel erzeugt die Klarheit der intellek-
tuellen Wahrnehmung.

Dies System beruht auf Einteilung der Zeit in gleiche Teile mit Hilfe von
Gliederbewegungen, nach den Regeln des körperlichen Gleichgewichts. Demzufolge
wird der ganze Körper zur Tätigkeit herangezogen und zwar nach dieser metho-
dischen Anleitung zu bewußter, gewollter Tätigkeit. Dalcrozes Erfahrung, daß die
Musik Bewegung schafft und daß »schöne« Bewegungen durch musikalische Rhythmik
beeinflußt werden, lehrte ihn die rhythmische Gymnastik als wertvolle Beihilfe zur
Kalisthenie kennen. Das haben vor und neben ihm auch andere1) erkannt, aber
Dalcrozes großes Verdienst ist es, seine Erfahrungen in ein lehrbares, wenngleich
recht schwieriges und anspruchsvolles wissenschaftliches System gebracht zu haben.
Der Geist Delsartes weht mir fast aus jedem Lehrsatze entgegen;' wie weit er von
ihm beeinflußt worden ist, wie weit er dies zugibt, entzieht sich meiner Kenntnis.
Auch darin folgt er den Spuren dieses Größten, Tiefsinnigsten, daß er die Atemkunst
in seine Lehrweise einbezieht.

3. Mensendiek, Bess. M., Körperkultur des Weibes. 8°. 187 S. u.
81 photogr. Aufnahmen. München, Bruckmanns Verlag, 1906. — Olden-
barnevelt, Jeanne van, Die Atmungskunst des Menschen im Dienste
der Kunst und Wissenschaft, gr. 8°. 86 S. Oranienburg, Verlag von Wilh.

') D. geht von der Musik aus; der »geschmähte« Spieß, der als erster die »Frei-
übungen« zum Lehrsystem schuf, zog Takt, Rhythmus, Musik, Gesang dazu heran.
Nur daß man auch ihn falsch verstand oder einfach »nachmachte«, richtete Unheil
und Verwirrung an.
 
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