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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 28.1934

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Schirmer, Walter F.: Dichter und Publikum zu Ende des 15. Jahrhunderts in England
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https://doi.org/10.11588/diglit.14173#0238
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WALTER F. SCHIRMER

Nationalepos zu schreiben; ein Versuch, der, wie wir sahen, durch die
Bürgerlichkeit des Publikums ebenso wie durch seine bescheidene Dich-
tergabe nur einen Zwitter hervorbringt. Gerade diese Zwitterstellung
Malorys und der verwandten Literatur seiner Zeit, daß sie einerseits
heroisch zu sein scheinen, anderseits die gotische Formkonvention wenig-
stens äußerlich lebendig hielten, läßt sie geradewegs hinaufführen zu
Philip Spenser, dessen Werk — genau wie der Stil des Manierismus in
der Kunstgeschichte — ein letztes Aufleben der Gotik darstellt. Einer
Gotik aber, die erfüllt ist mit dem neuen Leben seines humanistisch ge-
bildeten und im Erstarken der Tudordynastie nationalbewußt geworde-
nen Publikums. So zeigt die Feenkönigin wohl die gotische Formkonven-
tion als allegorische Rittergeschichte mit Personifikationen, Zauber,
Abenteuer, Märchenglanz und sinnlichem Prunk. Aber für Spenser war
die Welt des Rittertums, wenn er sie auch gleichsam den sie als Wunsch-
traum hegenden Händen des bürgerlichen Publikums entnahm, viel mehr
als ein schöner Traum. Ihm bedeutete sie festes Vertrauen in Gloriana,
die Herrscherin Elisabeth. Er will für Elisabeth und Leicester Geschichte
machen, vorausahnen und vorschreiben. Er will kein Kunstwerk um der
Kunst willen geben, sondern ein Kunstwerk, das für große Engländer
ein praktisches Handbuch der Moral, Politik und Lebensphilosophie sein
sollte, ein Nationalepos der Zukunft.

Das Publikum aber, das wie man meinen möchte, um dieses ethischen
und politischen Gehalts willen die gotische Rekonstruktion der Form in
Kauf nahm, war sich in Wirklichkeit gar nicht einer solchen Rekonstruk-
tion bewußt, denn es las die Bilder, die in ihrer unerschöpflich quellen-
den Fülle etwas Betäubendes haben, die voller als es je das Mittel-
alter vermochte, die Spiegelung einer Sehnsucht nach dem schöneren
Leben ausdrücken, nicht allegorisch sondern sinnlich. Das in diesen Bil-
dern gestaltete schönere Leben war aber das plötzliche Gewahrwerden
der sinnlichen Schönheit dieser Welt, die der Humanismus nach der
mittelalterlichen Entgötterung neu vergottet hatte. Dies neue Publikum
kehrte damit — mehr als es dem Dichter lieb war — der spätgotischen
Kunst unwillig den Rücken. Erst jetzt ist das Licht der gotischen For-
menwelt des Mittelalters verflackert, dessen letzte mannigfach gebrochene
Strahlen ich aufzuzeigen suchte.
 
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