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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 28.1934

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Cysarz, Herbert: Menscheit, Volk, Dichtung: Betrachtungen zum Schrifttum des jüngsten Jahrhunderts
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https://doi.org/10.11588/diglit.14173#0241
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MENSCHHEIT, VOLK, DICHTUNG

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heit, dem Menschenrecht aller gedient — oder dienen können? Und was
ist seither zur Verbesserung dieser Ordnung geschehen? Zweierlei ist
geschehen und geschieht: Erstlich Rüstungen, die dem Ideal der Mensch-
heit offen widerstreben, und zweitens Sitzungen, die es kaum einen
Schritt der Verwirklichung nähern. Jedermann weiß: Wenn heute hun-
dert Millionen hungern und anderswo die Nahrungsmittel in das Meer
geschüttet werden, kann von der Menschheit, von ihren heutigen Ord-
nungen, keine tätige Hilfe erlangt werden. Und jedermann weiß auch,
was solchenfalls der Völkerbund unternimmt: Er wartet zu, bis die
Leute verhungert oder aus eigenen Kräften versorgt sind, und faßt dann
eine Entschließung (Gott behüte vor einem Entschluß!). Und das nicht,
weil er heuchelte, sondern weil er notwendig kein Faktor der Tat, nur
ein Forum des Urteils ist. Gemacht wird die Geschichte, bis auf Weite-
res, von den Völkern und ihren Einzelnen. Ob und in welchem Maß sie
etwa noch von der Römischen Kirche gemacht wird, zumal da, wo es
keine katholischen Fürsten mehr gibt, sei zunächst nur gefragt. Jede
Kirche dient einer Machtwerdung des sonst Machtlosen. Und daß die
katholische Kirche Geschichte aller gemacht hat, davon zeugt unwider-
leglich schon unsere Zeitrechnung von Christi Geburt. Die heutige
Hauptfrage aber wäre, ob und wie weit die ökumenische Majestät die-
ser Kirche nicht nur alle Besonderungen realpolitischen Handelns (na-
türlich auch volklichen Handelns) überwölbe, begleite und fördere, son-
dern auch allem besonderen Handeln jene realpolitischen Anstöße gebe,
die uns dem geschichtlichen Schicksal gewachsen machen. Dies eben ist
jetzt das Erste. In unserem Mitteleuropa, wo jeden, der zögert, die Not
frißt, muß jeder handeln, so weit herum und hinaus er vermag.

Das Volk nun, vorerst bloß denkend umgriffen, erweist sich als Best-
verhältnis von Lebensreichtum, Tatkraft und Verantwortungswillen.
Schon der Stamm, der heimatliche Verband, verhält sich gleichsam
mehr weiblich als männlich; er birgt mehr Widerstands- als Stoß-
vermögen; er bietet Rückhalt, nicht Ansporn; er macht, nach einer Un-
terscheidung Hegels, noch keine Geschichte. Die Volkwerdung aber ent-
springt immer auch einem Urdrang nach Schicksal, es sei selbst der
Entschluß, lieber kämpferisch unterzugehen als im Hungerpferch zu
verkümmern; kurzab, sie folgt dem unbezwinglichen Willen, Geschichte
zu haben, der steten Bereitschaft, Geschichte zu machen.

Dieser Wille, der einen Fichte oder Arndt den Spengler oder Moel-
ler van den Bruck verbindet, also die allerverschiedensten Köpfe ver-
eint, entzündet auch unsere neuen Geschichts-, Erziehungs- und Ge-
meinschaftslehren (so unzulänglich vorderhand noch viele ihrer Mittel
bleiben). Geschichte machen gilt es überall. Alle Vergangenheit zeugt
 
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