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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 28.1934

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Cysarz, Herbert: Menscheit, Volk, Dichtung: Betrachtungen zum Schrifttum des jüngsten Jahrhunderts
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https://doi.org/10.11588/diglit.14173#0255
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MENSCHHEIT, VOLK, DICHTUNG

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verlangten, ein anderes wahrhaftes Verhältnis unserseits zuließen als
Verwirklichung, Tatbereitschaft und Opferwillen. Doch der nämliche
Tat- und Wirklichkeitsdrang, der alle leeren Menschheitsbegriffe ab-
dankt, nicht ihres Inhalts, sondern ihrer toten Lage wegen, erheischt
den unbeugsamsten Realismus auch in jeder anderen Richtung. Darum
dürfen auch die Gemeinschaftswerte, die da sind, nicht ideologisch ge-
leugnet werden, vorzüglich auch die in jeder echten Individualität be-
schlossenen Gemeinwerte. Die größte innere Gefahr aller lebendigen
Gemeinschaften ist die Ideologie der Gemeinschaft (nicht zu verwech-
seln mit der handlungsträchtigen Satzung und Überlieferung). Mehr
Realismus also tut uns not und das heißt: mehr Vertrauen zum Leben,
zur Intelligenz des Instinkts.

Und gerade der Kunst obliegt es, zwischen der Organisation des
Handelns und dem Instinkt des Lebens immer wieder die innigste
Wechselbeziehung zu stiften. Durch alle echte Dichtung werden Volk
und Menschheit weder vermischt noch versöhnt noch befehdet. Offenbar
aber wird durch sie das eine Gesetz des Menschen. Die Kunst zeigt
gegenständlich und unleugbar, was an menschlichen Dingen begrifflich
kaum nur erfragt werden kann. In solchem begrifflichen Entweder-oder
ist das eine so falsch wie das andere, und der Entscheid immer belang-
los. Boden und Blut zum Beispiel, diese Mächte dürfen so wenig ver-
neint wie verausschließlicht werden; zu fragen aber bleibt, welche seeli-
schen Lagen der Einfluß des Bluts und des Bodens durchgreife. Auch
Stamm und Landschaft sind immer am Werk; nur die kunstverlassenste
Torheit könnte sie auszulöschen, nur das kunstfeindlichste Dickhäuter-
tum könnte alles auf sie zurückzuführen versuchen. Wo und wie aber
setzen sich die Einflüsse der Landschaft und des Stamms im ganzen
Menschen, im ganzen Dichtwerk ab? In welche typischen Strukturen,
und in welcher Folge, wirken sich Gebundenheit und Gemeinschaft aus?
Wie weit und mit welchen Sinnen vermag ein Volk das andere zu ver-
stehen? Wie weit ist zwischen den Einzelnen, ist zwischen verschiedenen
Gruppen verschiedener Völker natürliche Übereinstimmung möglich, wie
weit tut stete Auseinandersetzung not, und wo bleibt Gegnerschaft das
ehrlichere Verhältnis? Jede bloße Begriffsentscheidung ist hier ungenü-
gend, jede begriffliche Erörterung ufer- und grundlos und schon als
Erörterung nichtssagend. Die Dichtung aber gibt schlüssige Antworten,
wo der Begriff im besten Fall Fragen zu stellen vermag. Und diese Ant-
worten hat unsere Kunstwissenschaft zu verarbeiten.

Die Besten unter uns sind Schrifttumsforscher nicht als Fremden-
führer oder Ladendiener oder gar Schmarotzer der Dichtung; vielmehr
als Sucher des Menschen im Weltall und des Weltalls im Menschen.
Denn die Dichtung birgt die umfassendsten Grundlagen jeder wirk-

Zeitschr. f. Ästhetik u. allg. Kunstwissenschaft. ' XXVIII.

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