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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 29.1935

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Odebrecht, Rudolf: Werkstoff und ästhetischer Gegenstand
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https://doi.org/10.11588/diglit.14176#0015
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Werkstoff und ästhetischer Gegenstand.

Von

Rudolf Odebrecht.

zö de ßäfiog exäözov i) vkr)
Enn. II. IV. 5.

I.

Mit der Entwertung des Stoffes bringen Plotin wie Aristoteles eine
Grundhaltung der antiken Seele zum Ausdruck. Beide suchen einer boden-
losen metaphysischen Unheimlichkeit durch jene schicksalsschwere Ent-
scheidung auszuweichen, die in der Materie das Nichtseiende, die bestim-
mungslose Möglichkeit, in der Form allein den Grund der Wirklichkeit
erblickt. Wie dann die Vorstellung, als sei die irdische Materie nur der
„Träger" (vjzoöozv) für die Formen, nur ein „geformtes Totes" (vexgöv
xexoGwiievov Enn. II. IV. 5) die ontologische und in weiterem Sinne auch
die ästhetische Problematik beeinflußt hat, ist bekannt. Ist schon im Be-
reich des wirklichen Seins der Stoff zum Unwert eines „Nur anderen"
herabgewürdigt, so wird es die Sehnsucht der Seele erwecken, die Form
in den Äther der Idealität zu erheben. Und es kann einer so orientierten
Kunstauffassung nicht zugemutet werden, das Unternehmen der Form-
ablösung, das der Kunst als Aufgabe gesetzt wird, durch die noch auf-
dringlichere Brutalität des Werkstoffes in Frage gestellt zu sehen. —
Doch würden wir Plotin Unrecht tun, glaubten wir, daß er in satter Kurz-
atmigkeit zergliedernden Denkens über die Abgründigkeit des Rätsels
gänzlich hinweggesehen habe. So magisch packt ihn vielmehr die Para-
doxie des Stoffproblems, daß er von einer der Materie innewohnenden
erzeugenden Seele spricht (z^v swXov xal yeviqzLx^v ipv%r)v Enn. II. III. 17)
und ihre ontologische Funktion durch die Annahme einer zweiten intelli-
giblen Materie zu adeln versucht. „Die Tiefe jeden Dinges ist die Materie."
Niemand vor Plotin hat dieses Bathos unmittelbarer erlebt: niemand aber
auch mit solchem Schauder vor seiner chaotischen Maßlosigkeit gestan-
den. Die Seele leidet Qualen, wenn sie, um das Gestaltlose aufzunehmen,
sich selbst zur Ungestalt entstellen muß; sie hat „Angst, außerhalb des
Seienden zu sein und hält es nicht aus, lange bei dem Nichtseienden zu
verweilen".

Zeitschr. f. Ästhetik u. allg. Kunstwissenschaft. XXIX. 1
 
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