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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 29.1935

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Odebrecht, Rudolf: Werkstoff und ästhetischer Gegenstand
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https://doi.org/10.11588/diglit.14176#0025
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WERKSTOFF UND ÄSTHETISCHER GEGENSTAND 11

Neuerdings hat H. Lützeler, der sich in hervorragender Weise um die
Gesetzlichkeiten des Werkstoffes bemüht18), die Ansicht vertreten, man
habe „getreu der illusionären Seinsweise der Kunst nicht von der Tat-
sächlichkeit des Materials, sondern vom Schein des Materials aus-
zugehen. Es kommt nicht darauf an, ob ein Material hart ist, sondern ob
es hart wirkt." Diese Auffassung entspricht dem Sinne nach durchaus
dem von mir betonten Immanenzcharakter des Werkstoffes. Auch ich
spreche vom Stoff nicht als von einer dumpfen, kompakten Realität, etwa
nach den Begriffsbestimmungen des Physikers, sondern ich meine die
gefühlsmäßigen Erlebnisabschattungen von Stoffstruktur. Nur von einem
solchen abschattenden Gegenwärtigsein von Materialität ist bei der Funk-
tion des Zeichens die Rede. Doch möchte ich diese Abschattung, den
„Schein des Materials", nicht in eine Reihe stellen mit dem Kunstschein
der illusionären Auffassungsweise. Ob es sich um die Aussonderung und
Bevorzugung taktiler, optischer oder akustischer Qualitäten am Material
handelt, so bleibt es doch immer die wahrgenommene „Materie der Emp-
findung". Zugegeben, es verbinden sich fremdstoffliche Assoziationen in
einem optischen Stofferlebnis, die mit den taktilen Erfahrung in Wider-
spruch stehen (schwammiges Aussehen des porösen Steines, scheinbare
Zähflüssigkeit des Porzellans usw.), so beziehen sich derartige Assozia-
tionen auf die Begegnung mit diesem Material überhaupt; d. h. wir blei-
ben mit ihnen in der Region des Materialerlebnisses. Es handelt sich
nicht um Schein, sondern um die spezifische Erscheinungsweise des Ma-
terials für das betreffende Sinnesorgan.

Damit dürfte der Begriff des Werkstoff-Gefüges soweit seiner traditio-
nellen Verdecktheit entzogen sein, daß er zum legitimen Gegenstand kunst-
wesensmäßiger Erschließung gemacht werden kann. In zunächst aufzei-
gender, noch nicht auslegender Weise stellen wir fest, daß das Kunst-
werk ein mit Zeichencharakter versehenes, zu einer
Sinnganzheit geformtes materielles Bedeutungsgefüge
ist. Das Gefüge bildet zusammen mit seinen vorstellungs- und gefühls-
mäßigen Verweisungen die Werkganzheit im gegenständlichen Sinn. Die-
ser Satz verträgt keine Ausnahme, obwohl er vom Standpunkt kunst-
geschichtlicher Forschung mancher Anfechtung ausgesetzt sein dürfte.
Von der ästhetischen Dominanz der Malfläche in der Stilperiode der
Hochrenaissance und des Barock zu sprechen, erscheint abstrus. Die vir-
tuose Maltechnik des 17. und 18. Jahrhunderts hat offenbar die Eigen-
bedeutung des Materials restlos überwunden. Man berauscht sich an
fremdstofflichen Illusionen; das Stoffmysterium der Farbessenzen hat sei-
nen eigenartigen Ausdruckscharakter, das Materiale seine Seele verloren

18) Einführung in die Philosophie der Kunst, Bonn 1934, S. 30 ff.
 
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