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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 29.1935

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Odebrecht, Rudolf: Werkstoff und ästhetischer Gegenstand
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https://doi.org/10.11588/diglit.14176#0035
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WERKSTOFF UND ÄSTHETISCHER GEGENSTAND 21

sein kann. Das Gesetz von der poietischen Konstanz des Entwurfs muß
als grundlegendes Wertapriori angesehen werden. In der Offenbarkeit des
Entwurfs erleben wir, was im verdeckenden Schein der Ausführung all-
zuoft fast erstorben ist. Wir erleben das mysterium magnum aller Poiesis,
den Entsprung und Gegenwurf aller bedeutenden Gestalt aus der Bedeu-
tungslosigkeit, Uneigentlichkeit des Stoffes und die Verwandlung dieser
Uneigentlichkeit in das Symbol tiefster Ausdrucksbestimmtheit.

Nicht rationale Verständigkeit, nur werkgerechtes Verstehen führt zur
Erschließung des im heimlichen Entwurf liegenden Gestaltungssinnes.
Nur wer durch die Scheinklarheit und Spiegelungsmannigfaltigkeit des
Kunstscheins zur Offenbarungseinheit des in der Verdecktheit liegenden
formschaffenden Stoffgefüges durchdringt und der geheimen Zwiesprache
zwischen Werkzeug und Material lauscht, wird das fruchtbare Keimes-
moment erleben, aus dem sich in unerschöpflicher Dialektik das totum
integrum varietatis der Reflexrealität des Werkes abhebt. Der Gestaltungs-
sinn der Proverbios von Goya ist nicht durch Einfühlung, gefühlserfüll-
tes Anschauen und noch weniger durch gemütvolle moralisierende „Tafel-
beschreibung" zu erleben. Die Teil- und Merkmalsvorstellungen stehen
überhaupt nicht mit bestimmter Klarheit vor uns. Vielmehr handelt es
sich um Vorstellungsmassen, deren Gegenstandssinn kaum zum Bewußt-
sein kommt, während sie zusammen ein seltsames emotionales Verschmel-
zungsverhältnis bilden, das uns durch das Widerspiel bizarrer Verwei-
sungen hindurch in eine bildlose, nach Ausdruck suchende Stimmung ver-
setzt. In dieser Stimmung meldet sich das Stadium der absoluten Poiesis,
der stofferfassenden und stoffbeseelenden Gebärdung an. Und nur eine
unerhörte vis aesthetica vermag in intimem Verkehr mit den Blättern zur
Aufdeckung und stimmunghaften Bindung des Gestalterlebnisses zu ge-
langen. Wie der Meister mit den Mitteln der Aquatinta eine Welt nächt-
licher Spukgestalten hervorzaubert, wie er durch eigenwilliges fleckiges
Durchätzen des Grundes eine von Verwesungsgeruch durchsetzte Atmo-
sphäre schafft, und durch das Gefüge kurzer, abgehackter Ätzlinien jenes
Zucken und Flimmern erzeugt, das den Figuren ihren gespenstischen
Charakter verleiht: alle diese Momente und Stadien des Schaffens schmel-
zen wir unserem Gefühlsleben ein; und es wächst schließlich als „unüber-
sehbares summa summarum"29) des bildhaften Spannungsgefüges ein
emotional wie gegenständlich anders geartetes Melos-Erlebnis hervor,
dessen gegenständliches Korrelat das aus seiner Verdecktheit befreite Ge-
füge des schöpferischen Entwurfes ist.

29) So bezeichnet Goethe die Geburt des elegischen Verses aus der Stimmung
seines Rom-Erlebnisses. Vgl. meine „Werttheorie", S. 187.
 
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