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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 29.1935

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https://doi.org/10.11588/diglit.14176#0083
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BESPRECHUNGEN

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und gerade dadurch werden ihm die Beziehungen des Anmutigen zu objektiven phy-
siologischen Tatbeständen verhüllt. Kaum wird eingegangen auf das Vorkommen der
Grazie in der Kindheit, bei der Frau, ganz allgemein: in der Jugend, deren hervor-
ragendes stilistisches Merkmal sie darstellt (vielleicht fürchtete sich der Verf. vor
dem Gemeinplatz). Schließlich findet sich seltsamer Weise in diesem Zusammenhange
keinerlei Anspielung auf das Pflanzenleben (als ob die Liane und die Primula veris
nichts mit dem Problem der Grazie zu tun hätten!)1). Vielleicht hat der Verf. damit
sogar die prärogative Instanz seines Problems verfehlt. Die zahlreichen Hinweise
in diesen beiden Kapiteln und an anderen Orten auf die physiologische Anmut, die
gebunden erscheint „ä l'enrobement des formes par les tissus de reserve" (I, S. 475);
auf die „proteushafte" Vielfalt der unvollendeten, nicht voll entwickelten Möglich-
keiten; auf den Aufstieg verborgener Kräfte in der Grazie (S. 497); auf die für die
Grazie so unumgängliche Unmittelbarkeit (eine wohlbekannte Tatsache), die durch
willkürliche und bewußte Anwendung getötet wird; bekommen alle diese Hinweise
nicht ihren rechten Sinn und ihre Bedeutsamkeit erst durch die Beziehung auf die
Vorstellung von einem Stil des unbewußten Lebens, des rein hinströmenden Lebens,
dessen spontaner und gestaltbarer Fluß, der aus den tiefsten kosmischen Gründen
kommt, in strengem Gegensatz steht zu den strafferen, härteren, deutlicher zweck-
gestalteten Stilen des Lebens jener, die von ihren irdischen Wurzeln getrennt sind,
die bewußt sind ihrer Bedürfnisse und der Mittel, um sie zu befriedigen? Schließlich
ist man erstaunt zu sehen, daß der Verf. (der in diesen Kapiteln der Liebe nur in
Form der mehr geistreichen als leidenschaftlichen „Libertinage" einen Raum gönnt)
nicht wenigstens den Blick eröffnet hat auf die unvermeidbare Frage nach der Rolle
des Sexuellen in der Anmut. Obschon der Freudismus in der Ästhetik oft unhaltbar
ist, vor allem wenn es sich um die fester gefügten ästhetischen Kategorien handelt,
so kann er doch keinesfalls übergangen werden, wenn es sich um das Graziöse han-
delt. Ein großer Teil des im Anblick einer dekorativen Kurve empfundenen Reizes
entspricht einer symbolischen Sublimierung der „weiblichen" Stilmerkmale. In einer
solchen Stilistik des weiblichen Körpers würde man übrigens noch Beziehungen mit
dem Reich des Pflanzlichen finden: das weibliche Geschlecht hat innigeren Anteil an
diesem bewegungslosen und vegetativen Prinzip als das männliche, das losgelöst vom
Boden in ständiger Bewegung ist. Und wenn es sich schließlich um die Anmut der
Bewegung handelt, so darf man nicht vergessen, daß sie zum guten Teil zusammen-
fällt mit einer Technik der Verführung. Ist der Verf. etwa der Ansicht, daß es sich
hier nur um ein zufälliges Zusammentreffen handelt? Zumindest dürfte man in so
gewichtiger Angelegenheit eine ausdrückliche Fragestellung erwarten. Ein einfaches
Übergehen dieser Fragen wirft einen bedenklichen Schatten auf alles Folgende.

Nacheinander untersucht der Verf. die Darstellung des Anmutigen in den ver-
schiedenen Künsten. Zuerst in der Architektur. Hier nimmt er Gelegenheit, seinen
Begriff der Grazie im Gegensatz zu anderen ästhetischen Kategorien näher zu be-
stimmen. Es ergeben sich ihm dabei gute Beweisstücke „de la relation qui unit une
categorie esthetique ä un aspect" (S. 317). Durch die Entgegensetzung des Monu-
mentalen und des Graziösen gelangt er zu folgendem Schluß: „L'architecture, contre
nature, glisse ä la gräce. Mais c'est dans la mesure meine oü eile devient un art
m i n e u r" (S. 356). In der Tat kann der Verf. die besondere Bedeutung des Graziösen
im Dekorativen aufweisen, wo es durchaus als eine Zutat (eine „Blüte" möchten wir
sagen, indem wir mit diesem Wort den Sinn verbinden, den ihm Aristoteles in seiner
Theorie der Lust gibt) und nicht als konstruktives Element erscheint. Diese Feststel-

*) Die Blume wird einzig Bd. II, S. 512, im Zusammenhang mit der Gartenkunst
erwähnt; und das in einem ganz anderen theoretischen Zusammenhange als in Buch I.
 
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