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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 29.1935

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https://doi.org/10.11588/diglit.14176#0084
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BESPRECHUNGEN

lung leitet ihn unmittelbar über zum nächsten Kapitel, das die Bedeutung des Gra-
ziösen für die untergeordneten Künste und die Dekoration untersucht.

Dies Kapitel (S. 357—445) ist eines der besten des ganzen Werkes. Es gibt einen
ausgezeichneten Beitrag zum Studium der „Logik der Künste". Der von Bayer mit
Recht hervorgehobene beherrschende Zug des Anmutigen ist das Mitwirken einer
„modulation", einer „Variation", die um die eigentliche Form herum-
spielen; die die Form zugleich voraussetzen und verkleiden2); die sie bekleiden,
ohne sie dennoch zu verstecken; und die in dieser Verkleidung oder „Variation" alle
„möglichen" Richtungen (sehr zu Unrecht hat der Verf. die Bedeutung dieser „Mög-
lickheiten" nicht weiter untersucht) der Kurve oder der Bewegung „erschöpfend"
(S. 365) zusammenfaßt. Seinen anderen Untersuchungen gegenüber, die sich auf die
Symmetrien, die Schwankungen, die Brechungen, die Vereinigungen beziehen, kann
man Zweifel erheben, ob der Verf. sich noch im Rahmen der Kategorie des Graziösen
hält, oder ob er nicht in der Art die Gattungsmerkmale wiederfindet, in der graziösen
Form die allgemeinen Gesetze jeder Form.

Dasselbe gilt für die folgenden Kapitel über die Malerei und die Plastik. Die Sei-
ten 481 („L'interference des canons"), 499 („multiplicite des passages"), 512 („disso-
lution des plans"), 527 („politique de liaison"), 539 („charme de l'imparfait") geben
genaue und feinsinnige Beobachtungen über etwas, das für die Grazie immerhin be-
zeichnend ist. Im Gegensatz dazu betreffen die Seiten 579 ff. („jeu des axes" mit
Abbildungen S. 582) u. a. durchaus die allgemeine Formwissenschaft und beziehen
sich nicht, wie der Verf. behauptet, auf das Anmutige, sondern auf die allgemeine
Kompositionstechnik.

Wir weisen in einfacher Aufzählung noch hin auf die hübschen Analysen des
Idyllischen und des Elegischen (II, S. 38: „complicite des choses"; S. 43 ff.: „l'inspi-
ration fraternelle"! S. 57: „Le loisir"). Diese Analysen beziehen sich in Wahrheit auf
zwei dem Anmutigen benachbarte Kategorien. Im übrigen sind auch sie fein-
sinnig und wohlgefügt.

Im folgenden berührt der Verf. die Musik. Seine Untersuchung über die Grazie
in der Melodie (II, S. 107—169) will mit Sorgfalt gelesen werden; die Bei-
spiele sind gut gewählt und sehr sinnvoll analysiert. Besonders auffällig erscheint
die Beziehung zu den im Rahmen der dekorativen Künste und der Arabeske beobach-
teten Erscheinungen.

Die auf die Harmonie bezüglichen Abschnitte sind weniger stichfest. Dem Verf.
ist offensichtlich die Melodie vertrauter als die Harmonie (er scheint sogar anzuneh-
men, daß dies eine allgemeine Erscheinung ist; vgl. S. 169). Zulässig sind immerhin
seine Schlußfolgerungen, wenn er zugibt, daß in diesem Bereich „la gräce tend ä
mettre tous les degres en equilibre indifferent" (S. 193), so daß — nach einer dem
Spiel entnommenen Metapher — „la gräce mise sur tous les tableaux" (S.204). Durch-

2) Hinzufügen müßte man die ähnlichen Andeutungen im Kapitel 5 und vor allem
Bd. I, S. 585, über die „retards de l'inacheve". Ich wundere mich, daß Bayer niemals
daran gedacht hat, das Gedicht L'Insinuant von Paul Valery (In: Charmes) anzufüh-
ren. Dort würde er einen sehr tiefsinnigen Hinweis auf das „Trügerische" des
Maeanders finden. Das Moment der List oder gar der Lüge, das wir im Graziösen
finden (zuviel erweckte Hoffnungen, zuwenig Hingabe und wahres Geschenk; und
eine dauernde Enttäuschung), und der Zuschuß an Schmerz, der sich in der
Freude am Graziösen findet, mit einem Wort: „Die Tragödie der Grazie" ist dem
Verf. vollkommen entgangen. Kann wirklich ein Philosoph weise (oder glücklich)
genug sein, um niemals erfahren zu haben, daß die Koketten grausam sind und daß
ein der Grazie eröffnetes Herz leichter dem Schmerz offensteht als jenes andere,
das vom Erhabenen oder vom Komischen erschüttert wird?
 
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