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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 29.1935

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https://doi.org/10.11588/diglit.14176#0101
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BESPRECHUNGEN

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Gesamtsituation des entbundenen Individualismus angesehen werden. Aber es müßte
deutlicher betont werden als dies von Pauli und den übrigen Kunsthistorikern des
19. Jahrhunderts bisher geschieht, daß diese Situation nicht erst mit der französi-
schen Revolution einsetzt, wie dies von Pauli z. B. auf S. 9 dargestellt wird. „Lange
bevor die Kunst schön war, war sie bildend", und eben deshalb „bildete" sie auch eine
volle Generation lang eine eigene Sprache aus — einen vernunftbegründeten Pathos-
stil, dessen antikische Verkleidung die Urelemente des Rationalen, Isolierten und
selbstgewiß Diesseitigen mit den Mitteln der Form aussprach. Der Klassizismus, eine
Schöpfung des Bürgertums, ist ebensowenig dem Geist der französischen Revolution
gleichzusetzen wie der Expressionismus dem der russischen Revolution. Beide Revo-
lutionen bedienen sich lediglich des jeweils „modernsten" Ausdruckes, sie schaffen
aber keinen eigenen. Darum sollte man nicht 1789, sondern 1760, d. h. die Anfänge
Winckelmanns und Mengs' an die Spitze setzen und daneben einen Architekten wie
Ledoux als Ausdruck der neuen, traditionsfreien Architektur (siehe E. Kaufmann in d.
Kunstwissenschaftlichen Forschungen Bd. II). Die tiefe Kluft wird nicht von der
Revolution aufgerissen, sondern sie ist ein Kulturphänomen, das um die Mitte des
18. Jahrhunderts einsetzt und dem die politische Revolution erst nachfolgt.

Träger der Kunstpflege aber ist das Bürgertum. „Je mehr nun aber — meint
Pauli — dieses Bürgertum an Wohlstand und Macht gedieh und seine besten Kräfte
der Wirtschaft zuwendete, um so deutlicher erwies sich seine Unzulänglichkeit als
Kunstpfleger. — Aus solchem Übel die Erlösung vom Staate zu erwarten, wäre in-
dessen ein Irrtum, denn nicht an den Staat ist die Kunst gebunden, sondern an die
Gesellschaft, und der Nachfolger des Bürgers und der Gesellschaft ist der Arbeiter."
Die Entwicklung des 20. Jahrhunderts scheint der These Paulis nicht recht zu geben.
Das zweite Viertel des Jahrhunderts ist angetreten, ohne daß der Arbeiter eine klas-
senbedingte Kunst hervorgebracht hätte.

Zur Darstellung der Künste übergehend, teilt Pauli in zwei Kapitel „Klassizis-
mus in der ersten Jahrhunderthälfte" und „Romantik in der ersten Jahrhundert-
hälfte" (die Besprechung des Bilderbandes folgt gesondert nachher). In Wirklichkeit
reichen beide Darstellungen bis in die Mitte des 18. Jahrhunderts zurück, da die
romantische Strömung auf ihre Wurzeln in „Sturm und Drang" und Neugotik (von
Landsberger zusammenfassend als „Gotizismus" bezeichnet) zurückgeleitet wird. Un-
erörtert bleibt die Frage, ob es eine spezifisch romantische Form gegeben habe, wie
überhaupt eine stilgeschichtliche Betrachtungsweise zurückgedrängt erscheint. Hier
kann Landsbergers „Kunst der Goethezeit" ergänzend einspringen. Dafür entzücken
einige Kabinettstücke von gedrängten Monographien, wie diejenige Schadows, Klen-
zes, Cornelius' und Richters. Dagegen scheint die Aburteilung Carstens (dessen ein-
zige Plastik „singende Parze" nicht in ihrer qualitativen Bedeutung erkannt wird)
und Blechens allzu subjektiv. Für Carstens wäre zu bemerken, daß er der einzige
Zeichner des Klassizismus gewesen ist, der Umriß und Volumen in Einklang zu brin-
gen vermochte (z. B. „die Nacht", Weimar). In Blechens Kunst wird die bedeutende
koloristische Leistung allzusehr auf den Effektwillen zurückgeführt und ein Moment
gesteigert erregter Subjektivität (siehe Selbstbildnis, Berlin, National-Galerie) bei-
seite gelassen.

Als einen ordnenden Gesichtspunkt finden wir offenbar Nadlers Stammestheorie
verarbeitet, wobei die norddeutschen Neustämme als die Träger von Klassizismus
und Frühromantik auftreten, die süddeutschen Altstämme als die Vertreter des Barock
und der Spätromantik. In diesem Zusammenhang kommt Weinbrenner als einem
Verbindungsmann zwischen Nord und Süd meines Erachtens doch größere Bedeu-
tung zu als er sie bei Pauli erhält.
 
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