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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 29.1935

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https://doi.org/10.11588/diglit.14176#0110
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BESPRECHUNGEN

Auftreten der Schauspieler nicht in Betracht kommen, wenn sie durch Periakten
gegen das Proszenium abgeriegelt werden?), so genügte die stilkritische Über-
legung, um eine solche Hypothese als unvereinbar mit dem „klassischen" Stand-
punkt Palladios erscheinen lassen zu müssen. Es wird dem Verfasser hier zum
Verhängnis, daß er nur einen Renaissancegeist kennt, der „den gleichen Ursprung
hat wie der Geist der antiken klassischen Zeit" (S. 11).

Schönes Arbeit scheint ein Beweis dafür, daß heute in der Theaterwissenschaft
die Zeit der reinen „Einzeluntersuchung" ohne Bezug auf das Ganze vorbei ist.
Entwicklung der Perspektivbühne: das ist Geschichte des theatralischen Raum-
begriffes, und an dem ganzen Raumproblem geht Schöne überhaupt vorbei. Seine
theaterhistorischen Einführungen lassen nicht erkennen, daß um 1500 eine ent-
scheidende Wandlung des Raumgefühles vor sich gegangen ist. Der Mensch hat
jetzt die Herrschaft über den Raum gewonnen, dem er sich bis dahin untergeordnet
hatte. Der Spieler auf der Bühne empfängt nicht mehr wie in der mittelalterlichen
Aufführung seine Prägung und Bestimmung von den einzelnen Spielstationen der
Raumbühne, durch die er hindurchgeht, sondern er kann jetzt im leeren Raum stehen
und ist selbst Schöpfer und Träger der Situation. Sein Mittel ist das Wort. Das
Wort läßt den Raum um den Menschen herum entstehen, es vermag diesen Spiel-
raum zu wandeln, zu zerstören und einen neuen an seine Stelle zu setzen. In dem-
selben Augenblick aber, wenn das gesprochene Wort an die Stelle des Optischen
tritt, das im mittelalterlichen Spiel Träger des Sinnes war, geschieht die ent-
scheidende Wandlung im Verhältnis von Zuschauer und Bühne. Das Spiel muß sich
jetzt zu der einen Zuschauer-Seite hin orientieren und verliert mit dieser Wendung,
was es im Mittelalter besaß: die Räumlichkeit, die Allseitigkeit, das Ausstrahlen in
sämtliche Richtungen. Unter der Herrschaft des Wortes wird das Spiel flächenhaft
zwischen Rampe und paralleler Rückwand. Eine Zeit des Übergangs (der die auch
von Schöne allzu kritiklos als Bühnenbilder hingenommenen Terenz-Illustrationen
entstammen) stellte unter dem Einfluß einer mißverstandenen Antike das Spiel
ausschließlich auf Wortwirkung, d. h. also vollständigen Verzicht auf reale Räum-
lichkeit ein. Damit wurden elementarste Grundgesetze des Theaters verletzt, und es
mußte ein Hilfsmittel gefunden werden, das der Bühne des gesprochenen Wortes
eine neue Sichtbarkeit und einen Ersatz für den ausgeschalteten Raum geben konnte.
Das Bühnenbild ersteht aus der Sehnsucht nach dem verlorengegangenen Bühnen-
raum. Spielraum wird ersetzt durch Raum-Illusion, und hier setzt die Aufgabe der
Perspektivkunst ein. Spiel und Raum durchdringen sich jetzt nicht mehr wie auf
der Raumbühne, sondern Spielschicht und Bildschicht stehen unverbunden hinter-
einander. Das Spiel ist in einen schmalen Proszenium-Streifen gedrängt, unab-
hängig davon schafft die Perspektive eine Raum-Illusion, die durch das Spiel eher
gefährdet als unterstützt wird, da es selbst vor der räumlichen Projektion un-
räumlich im Vordergrund bleibt. Und dieser Gegensatz vertieft sich noch, weil
das Spiel trotz unräumlicher Erstreckung Realität bleibt, während der Raum Symbol
ist. Die gesamte Stilentwicklung des Theaters zielt in der Folgezeit auf Über-
windung dieses Widerspruches; es wäre gerade bei der Behandlung der Perspektiv-
bücher darauf angekommen, diese fortwährende Auseinandersetzung zwischen
Raum-Realität und Raum-Projektion herauszuarbeiten.

Berlin. Helli Levinger.
 
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