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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 29.1935

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Kainz, Friedrich: Sprachphilosophie und Ästhetik
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https://doi.org/10.11588/diglit.14176#0171
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BEMERKUNGEN

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vorherrscht, zeigen die drei Sinnfunktionen der Sprache in ihrer Wirksamkeit auf
ästhetischem Gebiet. Jede der drei Sinnfunktionen eröffnet und thematisiert ein eige-
nes Gebiet sprachwissenschaftlicher Phänomene. Zwischen den beiden pragmatischen
Gattungen machen sich nun wieder kennzeichnende Unterschiede geltend. Bei Erörte-
rung dieser Dinge kommt B. gelegentlich in die Nähe der alten Lehre von den ver-
schiedenen Prosastilen und den genera dicendi oder orationis. Es gelingt ihm, die
Begriffe dramatische und epische Rede als allgemein sprachtheoretische Grundbegriffe
aufzustellen. Dramatische Momente sind vorhanden in jeder anschaulich präsentie-
renden Rede und der Deixis am Phantasma. Die dramatische Sprache stellt Vergan-
genes als gegenwärtig dar, die epische berichtet Vergangenes als vergangen. Für die
dramatische Rede ist eine gewisse Vorzugsstellung demonstrativer Redeteile kenn-
zeichnend; B. spricht in Anschluß an Brugmann von einem dramatischen Gebrauch
der Demonstrativa: „Wenn Demonstrativa räumlicher oder zeitlicher Bedeutung, wie
sie für die Anwesenheit und Gegenwart vom Standpunkt des Sprechenden aus gelten,
in der Erzählung auftreten, so ist dies eine dramatische Gebrauchsweise." In der dra-
matischen Rede spielt die demonstratio ad oculos, das gestenhafte Zeigen, die Laut-
gebärde eine große Rolle: die epische Erzählung ist über all das hinausgelangt. Das
Drama ist ständig darauf aus, das Abwesende sprachlich und mimisch in den Prä-
senzraum hineinzuzitieren, das Epos arbeitet dagegen mit Versetzungen: es bringt
den Hörer an die Stellen, von denen die Rede ist. Es gibt also zwei typisch verschie-
dene Arten, mit denen die Sprache Abwesendes erreicht. Selbstverständlich sind die
dramatische und epische Darstellungsart nicht sklavisch an die zugeordneten Dich-
tungsarten gebunden. Mit diesen Ausführungen erfährt die klassische Stilscheidung
von Lyrik (präsentisch-zeitlos), Epik (eminent perfektisch), Drama (präteritopräsen-
tisch) eine interessante Neubegründung von seiten der Sprachtheorie. — Sehr ertrag-
reich ist dann die in diesem Zusammenhang vorgenommene Vergleichung von Epos
und Film. Der Film ist dem Epos verwandter als dem Drama. An die Stelle der dra-
matischen Präsentierungstechnik tritt in Epos und Film eine ausgiebig verwendete
Versetzungstechnik. — In aller Kürze sei noch eine Reihe weiterer Erträge dieses
Buches für die Ästhetik wenigstens angedeutet. So vermögen die Ausführungen über
die „prinzipielle Offenheit sprachlicher Fassungen" und die dadurch nötig werdende
Mittätigkeit des Angesprochenen Bedeutung zu erhalten für eine Theorie des ästhe-
tischen Gegenstands und des ästhetischen Auffassens im allgemeinen (S. 172). Für
die Lehre von der Inversion als einem Mittel nachdrücklicher Hervorhebung werden
B.s Ausführungen über die „ausgezeichneten Stellen" im Satz wichtig (S. 330). Für
eine ästhetische Betrachtung der syntaktischen Möglichkeiten und die in diesem
Zusammenhang öfters anzutreffende Lehre von den ästhetischen Atavismen in der
Bevorzugung primitiver Nebenordnung vor künstlicher Unterordnung sind die ein-
gehenden Erörterungen über die Geschichte von Parataxe und Hypotaxe höchst för-
derlich. Wer sich mit dem Vergleich der verschiedenen ästhetischen Wertigkeit der
einzelnen nationalsprachlichen Strukturgesetze befaßt, wird mit Interesse den Ab-
schnitt über lapidare und reichgegliederte (polyarthrische) Sprachen lesen (S. 399 f.).
Gelegentlich werden vom Verf. kunstästhetische Sachverhalte herangezogen, um Pro-
bleme sprachtheoretischer Art zu erhellen. So wird etwa aus Leonardos Malerbuch
ein Vergleich der von Aufstellungsraum, Beleuchtung usw. sehr abhängigen Plastik
mit den weit selbständigeren Werken der Malerei, die ihre Lichtführung nicht vom
Aufstellungsort erhalten, übernommen, um an Hand dieser Parallele den Unterschied
von empraktisch ergänzungsbedürftiger und synsemantisch vollendeter, selbstgenüg-
samer Rede klarzumachen.
 
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