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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 29.1935

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https://doi.org/10.11588/diglit.14176#0184
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BESPRECHUNGEN

als Spiegel der menschlichen Gefühlsgehalte. Wieder bedeutet das eine Schwächung
des Dramatischen: die häufigen in die Landschaft gesprochenen Monologe, die
Nacht- und Nebel-Szenen usf. lassen die Natur wohl sinnlich werden, halten aber
die Handlung auf. Somit ergibt sich: „Zwischen dem Dramatischen als Formprinzip
und der Landschaft als Stoff besteht eine gewisse Heterogenität, die sich darin aus-
wirkt, daß die Naturerscheinung der Dramatisierung widerstrebt."

Nicht von literarhistorischer Seite ist die Arbeit konzipiert, und doch scheinen
mir die literarhistorischen Ergebnisse wertvoller, auf jeden Fall gesicherter als die
kunstwissenschaftlichen. So bedeutet der Aufweis der Phasenabfolge innerhalb der
Sturm- und Drang-Dramatik eine wesentliche Bereicherung. Auch die Ausdeutung
der Stiltendenzen wirft vielfach ein neues Licht auf das Ganze der Geniebewegimg.
Ebenso wird die Theaterwissenschaft aus den Kapiteln über die Aufführungstechnik
Nutzen ziehen. Gegen die kunstwissenschaftlichen Ergebnisse aber hege ich Be-
denken. Der Verf. ist ehrlich genug, jene allgemein gefaßte Heterogenität nicht als
Ergebnis der Sturm- und Drang-Analyse hinzustellen; aber auch aus der Analyse
der griechischen und der shakespeareschen Dramen gewinnt er sie nicht, er besitzt
sie doch als „Leitidee" vorher. Denn daß die Dramen des Euripides, bei dem die
Natur eine ungleich größere Rolle spielt als bei den Vorgängern, in ihrer Struktur
darum gelockert sind, wird nur behauptet, nicht bewiesen. Bei der ganzen Analyse
der Sturm- und Drang-Dramatik spürt man immer wieder, daß der Verf. auf etwas
Bestimmtes hinaus will, und jede Zusammenfassung sagt mehr aus, als die Aus-
führungen im Kapitel ergeben hatten. Die Leitidee ist zu weit gefaßt. Selbst wenn
durch die Natureinbeziehung eine Stockung des dramatischen Ablaufes droht, bleibt
die Frage offen, ob nicht aus rhythmischen und psychischen Gründen solche Ruhe-
pausen berechtigt sind, so daß sie also nicht immer eine undramatische Einstellung
verraten und das Dramatische des Ganzen gefährden. Diese Frage nach der Funk-
tion im Drama hat der Verfasser nicht gestellt, sie ist aber bei den weiten Folge-
rungen, die er zieht, notwendig. Ein anderes scheint mir noch wichtiger. Die Leit-
idee von der Heterogenität zwischen Drama und Natur bzw. Landschaft (der Verf.
trennt die Begriffe nicht, er beachtet z. B. Witterung und Tageszeit ebenso stark)
gilt nicht für das Drama überhaupt, sondern für eine bestimmte Art von Dramatik,
die freilich die letzten 150 Jahre in Deutschland geherrscht hat. Der Mensch mit sei-
nen seelischen Spannungen und Konflikten steht im Mittelpunkt, die Menschen han-
deln und bewegen, die Natur ist eben nur der Raum, in dem oder der Hintergrund,
vor dem sich das menschlich bedingte Geschehen abspielt. Es ist ein Fehler des Ver-
fassers, wenn er die Wesenszüge dieser Dramatik als die aller Dramatik stillschwei-
gend hinstellt. Darum ist seine Deutung des griechischen Dramas nicht überzeugend.
Denn schon die apriorische Voraussetzung, daß „die Dramatik der Griechen, Shake-
speares und unserer Klassiker die gleiche Formtendenz verrät", ist unhaltbar. Daß
das deutsche Drama nicht restlos von dem antiken abgeleitet werden kann, wenn
auch der große Einfluß unbestreitbar bleibt, hat jüngste Forschung herausgearbeitet
(vgl. Stumpfl, Der Ursprung des Fastnachtspiels und die kultischen Männerbünde
der Germanen, Zeitschrift für Deutschkunde 1934, S. 286 ff.). Es gibt noch ganz an-
dere Dramatik als die vom Verfasser beachtete, und man darf doch nicht übersehen,
daß die Dramen der Griechen, Shakespeares, der Klassiker und der jüngsten Ver-
gangenheit sich an jeweils ganz andere psychische Schichten richten. Der Satz von
der gleichen Formtendenz ist eine Konstruktion, und zwar eine falsche. In den kul-
tischen Spielen steht nicht der Mensch im Mittelpunkt. Die Rolle der Natur, freilich
nicht als Landschaft, ist ungleich größer als in der vom Verfasser beachteten Dra-
matik, denn sie ist Macht, stärkere als der Mensch. Vielleicht, daß auch wir eine Dra-
 
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