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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 29.1935

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https://doi.org/10.11588/diglit.14176#0187
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BESPRECHUNGEN

173

jVlusiktheoretiker höchsten Ranges müßte ein (wenn auch verborgener) Musikschöpfer
von dichterischem, also beispielgebendem Range sein. Nur wer sich auf eigene Lei-
stungen so hohen Charakters stützen kann, vermöchte Unumstößliches über die Kri-
terien dichterisch-geschliffenen Musikschaffens gegenüber einem mehr oder weniger
tüchtigen Musikhandwerkertum auszusagen. Nun kann man den älteren Theoretikern,
vom Mittelalter her bis zu Heinrich Schenker nicht kunsthandwerkliche Unerfahren-
heit nachsagen. Sie alle waren tüchtige Praktiker und komponierten meist eifrig. Auch
Schenker soll übrigens auf kompositorische Arbeiten hinweisen können. Geben aber
solche Zeugnisse tonsetzerischen Schaffenswillens und satztechnischen Könnens
irgendwelche Gewähr für die Begnadung durch jenes visionäre Phantasieschau-
vermögen in die unberechenbaren Hintergründe der symboleschaffenden Seele, wel-
ches erforderlich ist, um das technische Getriebe eines Musikwerkes, um die Stil-
haltung einer Musikepoche so zu erhellen, daß eine Unterscheidung zwischen voll-
endeter künstlerischer Zweckhaftigkeit hier und erst oder bereits schon wieder
unzulänglichem Zusammenklange von Form und Gehalt dort, gewonnen wird? —

— Müssen wir nicht nach den Erfahrungen aus der Geschichte der Musiktheorie be-
zweifeln, ob es jemals gelingen wird, jene (alle biologisch oder kulturell verbundenen
Gemüter zu sich zwingende) Bestimmungskraft, wie sie das reine Tondichtwerk über
Jahrhunderte hinweg ausübt, auch in der theoretischen Erörterung der Musik zu
erreichen? Läßt uns nicht der Wirrwarr der Meinungen dort bedrückt verstummen?
Sollten wir da nicht bescheiden eingestehen, daß die wahren Kundigen, die genialen
Tondichter, immer nur für ihr eigenes und für das Schaffen weniger Kongenialer
unbewußt zureichende Theoretiker, also nur traumhafte Erspürer ihrer Kunsttechnik
waren, daß ihr satztechnisches Kombinieren sich offenbar außerhalb (nicht unter-
halb) der rationalen Denksphäre vollzog? — Im allgemeinen muß man sich doch
überrascht und enttäuscht gestehen, daß unsere nur handwerklich erfahrenen Musi-
ker, das Musikwerk derbfühlend (wie sie eben meist angelegt sind) beschreiben und
bewerten, welches ihnen niemals in wunderbarer Ekstase geschenkt ward, das sie sich
(ihrer Begrenzung gemäß) nur mit dem Willen und mit dem Talente zum satztechnisch
abwandelnden Kopieren erarbeiteten. Und so wie sie für sich vorgehen mußten,
so geben sie ihre Arbeitsergebnisse an ihre Schüler weiter: doktrinär und pedantisch.

— Ein Gefühl der Verletzung seines eigenen Künstlertums durch einen mit unver-
gleichlicher Anmaßung auftretenden Theoretiker muß wohl jeder schöpferische
Musiker bei der Beschäftigung mit Schenkers Arbeiten erleiden. Und es bedarf allen
Einsatzes des nüchternen, gerecht urteilenden Verstandes, um dennoch nicht zu über-
sehen, welch' achtunggebietendes fanatisches Ringen um die Musik sich hier kundtut.

Wenn ich die Harmonielehre Schenkers als musikwissenschaftliche Leistung
kennzeichnen soll, so müßte ich sagen, daß sie dem Titel entsprechend Phantasien
neben Theorien bringt. Nach der theoretischen Richtung hin vermisse ich vor allem
eine fruchtbare Auseinandersetzung mit der Tonalitäts- und Funktionslehre Hugo
R i e m a n n s. Schenker betont mir zu sehr ihre unleugbaren Mängel und geht an
ihrem eigentlichen Gehalt vorbei. Er zieht es vor, bei der älteren mechanischeren
Stufenlehre zu verharren, der er ziemlich phantastisch einen neuen tieferen, mir
scheint fast magischen Sinn einzuhauchen trachtet, wie denn Schenkers Lehre als
musikalisches Evangelium sich schließlich auf mystische, aber durchaus handgreif-
lich wirksam gemeinte Faktoren beruft. Auf Seite 6 der Harmonielehre liest
man: „Man gewöhne sich endlich, den Tönen wie Kreaturen ins Auge zu sehen; man
gewöhne sich, in ihnen biologische Triebe anzunehmen". Aus dem „Tonwillen" Heft 1
zitiert Jonas (S. 173) folgende Verkündigung: „Schon die Urlinie gehorcht dem Zeu-
gungs-, das ist dem Wiederholungstrieb und fügt sich mit solchem Urtrieb in die
 
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