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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 29.1935

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https://doi.org/10.11588/diglit.14176#0193
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BESPRECHUNGEN

179

Im Gegensatz zur naiven Betätigung einer spielfreudigen Gemeinschaft bedarf das
eigentliche, alt-neue künstlerische Drama nach wie vor des stilisierten Spielortes, des
spannungsvollen Gegenübers von Publikum und Schauspielkunst, der übersehbaren
Zuschauerschaft und des ganzen Kunstkörpers eines individuellen, örtlich verwur-
zelten Theaters. In theaterwissenschaftlicher Weise sieht Junghans das Drama in
seiner Spielexistenz und nennt es gleichsetzend: das dramatische Theater. Mit beson-
derer Überzeugungskraft legt er die Notwendigkeit dar, eine gewisse zahlenmäßige
und örtliche Beschränkung des Publikums einzuhalten. Eine massenmäßige Verviel-
fältigung der Zuschauerschaft über den natürlichen Seh- und Hörkreis hinaus gefähr-
det das Elebnis, das Zusammenwirken der dramatischen Kräfte. Ebenso vermag eine
überörtliche Normalaufführung, etwa im Rundfunk, das Ingrediens des besonderen
örtlichen Publikums-, Bühnen- und Ensemblecharakters durch nichts zu ersetzen.

Wie das Hörspiel wird auch der Film als unvergleichbar wesensverschieden dem
Theater gegenübergestellt: die Anteilnahme des Publikums ist jedesmal eine andere.
Ebenso richtig sondert Junghans das Theaterstück vom Drama. Nur unterläuft ihm
hier in dem Bestreben, ein neues Unterscheidungsmerkmal beizubringen, ein Irrtum;
seine Behauptung, daß zum Theaterstück wesensgemäß ein internationales, zum
Drama dagegen ein nationales Publikum gehört, ist unhaltbar. Muß man erst Gol-
doni, Sheridan, Le Sage oder Raimund nennen, um festzustellen, daß nichts unmittel-
barer aus dem Volk kommen und zum Volk gehören kann als das Theaterstück?
Noch die mondänen und kriminalistischen Welterfolge der vergangenen Jahre, mit
denen sich der Theaterkritiker Junghans so viel herumschlagen mußte, daß sie ihm
als Dramaturg den Blick verdarben, tragen soviel Parfüm des Ursprungslandes, daß
sie gerade darum zur Mode wurden.

Auch bei anderen Formulierungen der Schrift muß man Einwendungen machen,
sobald man versucht, sie auf das geschichtliche Werden, auf Vergangenheit und Zu-
kunft anzuwenden. Für die unmittelbare Gegenwart, in der wir zweifellos eine Ent-
faltung des Volksspiels erleben und gewisse, wenn auch wesentlich schwächere, Be-
mühungen um das Drama, erscheint die grundsätzliche Unterscheidung zwischen
Drama und Volksspiel ebenso zutreffend wie praktisch. Ob aber der historische
Zeitpunkt, in dem diese „schwesterlichen" Theaterarten sich trennten, wirklich schon
so weit zurückliegt wie der fast mythische kultische Ursprung des Theaters, muß
ernstlich bezweifelt werden. Denn das würde besagen, daß das mittelalterliche Theater
lediglich dem Volksspiel angehört, und daß das Drama zwischen Altertum und Re-
naissance völlig unsichtbar blieb. Wir glauben mehr an Formenwandlungen als an
dies geheimnisvolle Nebeneinander, und es dürften sich außer Hans Sachs und dem
„Faust", die Junghans als einzige Vereinigungen beider Theaterarten gelten läßt,
noch andere Zwischenstufen im mittelalterlichen Drama finden lassen.

Besonders aber im Hinblick auf die Zukunft erweist sich die Unterscheidung, ent-
standen aus der Zwiespältigkeit der Gegenwart, als unwahrscheinliche Konstruktion.
Auf der einen Seite die Volksspiele, die aus natürlichen, religiösen und politischen
Gemeinschaftserlebnissen herauswachsen; auf der anderen Seite die völlig anders-
artige Welt unserer spärlichen dramatischen Produktion — und beides soll gleicher-
weise, aber getrennt, gepflegt und erhalten werden? Diese Rechnung ist ohne das
Volk gemacht. Wo ist das Publikum, das diese zwiefache Organisation des deutschen
Theaters tragen könnte? Sollen denn die gleichen Menschen, die ihre Festtage so
intensiv erleben, daß sie sie in Spielen zu formen suchen, an den Werktagen ins
„dramatische Theater" gehen? Oder sollen sie im Sommer dieses, im Winter jenes
Publikum abgeben? Oder soll gar für die eine Sorte Publikum das eine und für die
 
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