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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 29.1935

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Lützeler, Heinrich: Die Lautgestaltung in der Lyrik
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https://doi.org/10.11588/diglit.14176#0210
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HEINRICH LÜTZELER

dichts rhythmisch ausgezeichnet sind, andere aber nur kurz und schwach
aufklingen. Die Lautstatistik macht also die falsche Voraussetzung, daß
jede Stelle des Gedichts die gleiche klangliche Intensität habe. — Ebenso
abwegig ist es, zwar die rhythmischen Unterschiede zu beachten, aber an
rhythmisch ausgezeichneten Stellen solche Laute für zusammengehörig
zu halten, die nur im Sinne der Phonetik zusammengehören. So haben
etwa die Reibelaute f und s oder die Gaumenlaute k und ch lediglich eine
jeweils gemeinsame Entstehungsart, aber einen dichterisch völlig ver-
schiedenen Klangcharakter. — Verborgener als diese beiden groben Feh-
ler der Klanganalyse ist ein dritter: die Nichtbeachtung der Klangbeein-
flussung durch die Klangumgebung. Laute stehen im Gedicht nicht iso-
liert; indem aber Laute der Nachbarschaft auf sie einwirken, können sie
in ihrer Klangfarbe jenen angeglichen werden. Das zeigt etwa der vor-
letzte und drittletzte Vers in Stefan Georges Gedicht: „Nachdem der
kämpf gekämpft das feld gewonnen"6):

Von aller färbe sang und tanz umschlungen
Von aller frucht und blüte duft umdrungen ...

Die reine Vokalstatistik ergibt folgendes Bild der rhythmisch aus-
gezeichneten Vokale:

a a a a u

a u ü u u
Die dunklen Vokale herrschen vor; aber sprengt diese Ordnung nicht
jählings das ü von „blüte"? Dieser Seh-Eindruck wird jedoch vom Hör-
Eindruck berichtigt; denn das ü ist abgedunkelt, gleichsam überschattet
von den vielen dunklen Vokalen; es ist ein durch die dunkle Umgebung
gebrochener heller Vokal.

Der zweite Grundsatz für die Klangerfassung muß lauten: Nur das
Auffallende gilt. — Wer Klanganalysen durchführt, hört leicht das
Gras wachsen. Demgegenüber ist zu fordern, daß nur dann Klangliches
berücksichtigt wird, wenn es mit unbezweifelbarer Mächtigkeit im Gedicht
hervortritt. Man muß ja beachten, daß viele Klänge auf reinem Sprach-
zufall beruhen: der Inhalt verlangt das Zusammensein gewisser Worte
und bedingt damit gewisse Klänge. So ist denn gleichsam der akziden-
tielle Klang eines Gedichts von seinem substantiellen Klang zu unter-
scheiden. — Freilich ist dabei zu erwägen, daß auffallend nicht nur die
häufige Wiederholung desselben Klanges ist. Auffallend kann auch der
völlig vereinzelte Klang sein. So geschieht es z. B. in Goethes „Glück-
liche Fahrt":

6) Stefan George: Der Stern des Bundes. Gesamtausgabe der Werke. Bd. 8. Ber-
lin 1928. S. 111.
 
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