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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 29.1935

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Ritoók, Emma von: Die Wertsphäre des Tragischen, [1]
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https://doi.org/10.11588/diglit.14176#0251
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DIE WERTSPHÄRE DES TRAGISCHEN

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zu einer Seinsschicht gehören, die mit der Wirklichkeit nichts gemein
hat. Lassen wir diese Ausflucht fallen, so muß die Schuldfrage eine ganz
andere Beleuchtung gewinnen.

Die neueren Theorien haben — auch abgesehen von der Wirklichkeits-
frage — den Schuld- und Sühnegedanken überhaupt verworfen oder wenig-
stens die Sühne fallen lassen, denn die Schuld blieb an den tragischen
Helden in verschiedenen Formen haften. So spricht Th. Lipps, trotz
seiner entschiedenen Ablehnung der Schuldtheorie, von einem Schuldsein
des Helden an seinem eigenen Schicksal, von einer sittlichen Weltordnung,
der gegenüber die Auflehnung sich rächen müsse, oder daß sie wieder her-
gestellt wird, „sofern das Gute in dem Helden wieder Macht gewinnt"13).
Joh. V o 1 k e 11 findet, daß diese Theorie eher dem moralischen oder moral-
philosophischen Standpunkte des Lesers als dem ästhetischen entspricht;
trotzdem nimmt er zwei Arten der Tragik an, eine schuldvolle und eine
schuldfreie14). Friedrich Gundolf spricht auch von Unrecht und Sühne
und obgleich er vom Leiden, das am Unmaß und Unrecht sich vollzieht,
das Unrecht unterscheidet, durch das der Held für seine Schuld bestraft
wird, ist der Zusammenhang mit der alten Theorie offensichtlich15). Bei
vielen modernen Ästhetikern erhält die Schuld eine neue Form, meist tra-
gische oder metaphysische Schuld genannt, um sie von der sittlichen zu
unterscheiden. So behandelt S c h e 1 e r die Frage auch unabhängig von
dieser „albernsten aller Theorien", die in der Tragödie „eine moralische
Verschuldung suchen", wie er sie nennt, so daß wir an seine Auffassung
die Auseinandersetzung über das Ethische in der Tragik am angemessen-
sten anknüpfen können. „Die moralische oder verschuldete Schuld ist ge-
gründet in dem Wahl a k t, die tragische oder unverschuldete Schuld in der
Wahl s p h ä r e ... die Tatsache, Daß der Willensreine in Schuld verfällt
— das ist hier der Träger des tragischen Phänomens", sagt er zur Be-
gründung. Somit ist „die tragische Schuld eine Schuld, für die man nie-
manden beschuldigen kann, und für die es darum keinen denkbaren
Richter gibt". Der Gipfelpunkt des Tragischen ist, „daß es sich hier um
sittliche Werte handelt"16). S c h e 1 e r schließt hier an seine Theorie von

13) Der Streit über die Tragödie. 1891. S. 20, 32, 60.

14) A. a. O. S. 333.

15) Shakespeare. 1928. Bd. I, S. 145.

16) Zum Phänomen usw. a. a. O. S. 259 ff. Schellings Definition: „ohne wahre
Schuld durch Verhängnis schuldig zu werden", gehört auch in diese Kategorie
der unverschuldeten Schuld. Aber schon Racine sagt in der Preface zu Phaedra:
„Phedre n'est tout ä fait coupable, ni tout ä fait innocente ... eile est engagee
par sa destinee". Auch Hebbels Auffassung von der „dramatischen Schuld", die
uranfänglich mit dem Leben gesetzt ist (Mein Wort über das Drama, Werke
Bd. III, S. 343) hat dieselbe Qualität und geht auf seine von Schopenhauer be-
einflußte metaphysische Auffassung des Tragischen zurück. Es ist jene von der
Erbsünde, die keiner einzelnen Persönlichkeit als Schuld zugerechnet werden kann.
 
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