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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 29.1935

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Schmarsow, August: Melchior Palágyis "Lehre von der Phantasie"
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https://doi.org/10.11588/diglit.14176#0342
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BEMERKUNGEN

und sie löst die Phantasie in pure Empfindungen auf, d. h. sie desorgani-
siert den vitalen Unterbau unsrer geistigen Betätigungen. Zum Überfluß ver-
wechselt sie das Vitale mit dem Geistigen und hindert die Entwicklung einer
wahren Wissenschaft vom Geiste."

Wir können ja schon am menschlichen Säugling die Auswirkung der unent-
behrlichen Mitgift beobachten, wenn ein Meister wie Palägyi uns aufmerksam
macht. „Schon in den ersten Lebenstagen bewegt das Neugeborene die Händchen,
aber es fährt ziellos mit ihnen hin und her, fährt sich auch wohl ins Gesicht und
in die Augen", die ebenso blicklos nur einen Dämmerzustand zu verraten scheinen.
Jedwede Lenkung und Steuerung seiner Bewegungen fehlt ihm noch. Ich sage
aber, daß eine Bewegung gesteuert sei, wenn ihr eine entsprechende ein-
gebildete Bewegung innewohnt. Eine vorausgehende virtuelle Bewegung wird durch
Innervation der Leitungsbahnen verwirklicht. Nur in dem Maße, wie sich seine
Einbildung entwickelt, wird auch das Empfundene an einen Ort verlegt, der Blick
auf ein Ziel gerichtet oder mit den Fingern das eigene Füßchen betastet, am
Ende gar mit den Augen ebenso erfaßt, wie mit den Händchen gehalten. Der
zärtliche Blick der Mutter erweckt die Antwort des Lieblings, und eine zufällige
Berührung mit dem Born der Labung den ersten Kletterversuch des siegesfrohen
Eroberers auf dem Schoß. Aber einen Katzensprung dürfen wir ihm überhaupt
nicht zutrauen; doch hilft uns dies eine Wort zur weiteren Aufklärung, wenn
wir ihm folgend unter die menschlichen Lebewesen zurückgreifen: von der wilden
Katze zum Sprung des Löwen an den Hals der fliehenden Giraffe. Da rühren wir
an einen lebensnotwendigen Bewegungskomplex, der im Zerebrospinalsystem des
Wüstenkönigs vorbereitet liegt und blitzartig das virtuelle Vorbild in die grau-
samste Wirklichkeit übersetzt. Auch das ist ein überzeugender Einbildungsvor-
gang. Der Jäger bekennt sich zur Einstellung auf die Muskelkontraktion; dem
Löwen schwebt vielleicht gar kein aufzuckendes Bild vor, wie das heißbegehrte
Ziel seiner Beutegier, als er auf der Lauer lag. Es genügt das Innervations-
signal nach dem spähenden Ausblick, wie dem Säugling nach dem Anblick der
Mutterbrust. Die gesteuerte Bewegung zeugt dafür, daß die virtuelle Anlage ihre
Zielsetzung erreicht hat; wir könnten wohl dazusetzen „sozusagen Augen be-
kommen hat".

Und damit gelangen wir zu einem andern ausgiebigen Vergleich, den der
gewissenhafte Forscher grundlegend verwertet hat: mit der Phantasie des blind-
geborenen Menschensohnes. Auch der Blindgeborene kann sich Gestalten, wie
Dreieck, Viereck, Kreis usw. in der Einbildung produzieren, aber nur durch Tast-
bewegungen seiner Hand an den Ecken und Kanten oder Rundungen entlang, oder
mit Hilfe seiner immer in Anspruch genommenen Tastphantasie, die sich fast zu
einer autonomen Macht entwickeln muß. Wie er irgendeinen Körper genau betastet,
und selbst das Gesicht eines Besuchers so kennen zu lernen wünscht, so vermag er
diese Betastung auch in der bloßen Einbildung durchzuführen und ihr Ergebnis vor
sich hinzustellen (S. 69 ff.).

„Der erste und wichtigste Satz in der Lehre von der Phantasie wird durch
die Vergleichung der Phantasie des Sehenden mit der des Blindgeborenen ge-
wonnen. Die Tasteinbildung muß als der Grundstock unsres ganzen Einbildungs-
lebens betrachtet werden, so daß ohne sie eine menschliche Phantasie überhaupt
nicht bestehen könnte. Das Beispiel des Blinden zeigt, daß eine Tastwahrnehmung,
immer bestehen und die Auffassung der materiellen Welt vermitteln kann, wenn
auch die Gesichtswahrnehmung ausgelöscht ist; aber ein Wesen, das von Haus
aus keine Tastwahrnehmung besäße, sondern bloß mit einer Gesichtswahrnehmung
ausgestattet wäre, ist ein biologischer Nonsens. Und selbst unsere Hinausver-
 
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