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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 29.1935

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Einem, Herbert von: Der Torso als Thema der bildenden Kunst
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https://doi.org/10.11588/diglit.14176#0347
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BEMERKUNGEN

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ständliche Wertung- und die Unmöglichkeit, das Formproblem aus dem Gegenstands-
problem herauszulösen, schließen den Torso als Kunstthema aus.

Zum ersten Mal als selbständiges Kunstthema scheint der Torso bei Rodin vor-
zukommen. Bei einigen Werken ist es freilich nicht ganz sicher, wie weit sie als
solche auch ursprünglich schon gedacht waren. Der „Schreitende" aus dem Jahre
1878 ist in der Tat eine Studie zum „Predigenden Johannes", aber die Bezeichnung
„Schreitender" wie die Tatsache, daß er als Bronze vor dem Palazzo Farnese in Rom
aufgestellt werden sollte, deuten auf seine innere Vollendetheit. Der Torso von 1882
stammt aus dem Gestaltenbereich der Höllenpforte, aber auch er wirkt ganz als selb-
ständige Arbeit. Ohne Zweifel ein selbständiger Torso ist dann die „Meditation", die
zum Victor Hugo-Denkmal gehört. Ihr fehlen (wenigstens in ihrer endgültigen Fas-
sung-) die Arme. „Rodin" — so sagt Rilke — „empfand sie in diesem Fall als eine zu
leichte Lösung seiner Aufgabe, als etwas, was nicht zu dem Körper gehört, der sich
in sich selber hüllen Wollte, ohne fremde Hilfe." Es ist das erste Mal, daß Form und
Gegenstand auseinander treten, daß der Anspruch der Form die Rechte des Gegen-
standes schmälert. In der Folge sehen wir dann die Form immer selbstherrlicher wer-
den. Figuren und Figurengruppen werden mit scheinbarer Willkür gegenüber der
Naturgesetzlichkeit behandelt. Die Verwandtschaft aber der halb im Block verhar-
renden Gestalten Rodins mit Michelangelos Figuren ist ein Trugbild. In der Tat ist
hier ein tiefer Gegensatz: bei Michelangelo ist der Block nur vorhanden, wo die
Figur wirklich unvollendet ist. Bei Rodin gehört der Block mit zur künstlerischen
Form. Würde bei einer innerlich vollendeten Figur Michelangelos der Block mit-
gegeben sein, so würde er seine ganz bestimmte gegenständliche Bedeutung haben.
Bei Rodin hat der Gegenstand sein Eigengewicht verloren. Was er ist, ist er allein
durch die künstlerische Behandlung. — Eine der ergreifendsten Schöpfungen Rodins
in dieser Richtung ist die sog. Kathedrale: nichts als zwei steil emporgerichtete
Hände, deren Finger gewölbehaft einander zugeneigt sind. Ein Fragment, das doch
kein Fragment ist, eine Form, für die das gegenständliche Motiv nur noch der
äußere Anlaß ist.

Seit Rodin ist der selbständige Torso ein beliebtes Thema geworden. Wir finden
ihn überall dort, wo der Gegenstand seine Eigenbedeutung verloren hat. Die einen
lieben ihn um der Zufälligkeit und der offenen Bewegtheit seiner Form willen, neben
Rodins Werken mag hier als Beispiel der schöne Negertorso Georg Kolbes genannt
werden, die anderen, um durch ihn zu noch größerer Geschlossenheit zu kommen, hier
mag an Maillol und — um die Fülle der thematischen Möglichkeiten zu erweisen —
an ein Bildwerk wie den Denker Lehmbrucks erinnert werden. Wo dagegen das
Gegenständliche in seinem Eigenwert ernst genommen wird, — die Skala des Mög-
lichen läuft von Hildebrand zu Barlach —, da begegnet auch in der neueren Kunst der
Torso als Thema nicht.

Wissen wir nun bereits, warum der Torso in früherer Zeit als Kunstthema nicht
vorkommt, und können wir feststellen, welche Künstler der neueren Zeit ihn bevor-
zugen, welche ihn ablehnen, so ist damit der geschichtliche Ort des selbständigen
Torso schon bestimmt. Sein Auftreten ist Symptom des Wandels, der, lange vor-
bereitet, sich seit dem Ende des 18. Jahrhunderts in der Funktion der Kunst voll-
zogen hat, und der für uns zum unausweichlichen Schicksal geworden ist. Es zeigt
sich, daß die Bedeutung dieses Wandels von der Form her allein nicht richtig ver-
standen werden kann, daß vielmehr zu seinem wahren Verständnis die Einsicht in
das Problem des Gegenständlichen hinzukommen muß.

In der alten Kunst liegt die Entscheidung über den künstlerischen Stoff niemals
beim Künstler. Der Künstler ist an eine Auswahl des Möglichen gebunden, die nicht
 
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