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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 30.1936

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Blumenthal, Hermann T.: Karl Philipp Moritz und Goethes "Werther"
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https://doi.org/10.11588/diglit.14193#0043
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KARL PHILIPP MORITZ UND GOETHES „WERTHER" 29

Welche entscheidende Rolle das Buch in Moritzens Leben gespielt
hat, läßt sich nicht bloß daraus ablesen, daß, wie er selbst beklagt
(S. 259), in die Sprache seiner späteren Arbeiten immer wieder Werthe-
rische Wendungen eingesprengt sind — das finden wir auch bei anderen
Schriftstellern der Zeit, selbst bei Schiller3) —, sondern auch daraus,
daß er noch in den letzten Jahren seines kurzen Lebens immer neue Ver-
suche der Aneignung und Ausdeutung des Werther unternommen hat.
Die Begegnung, mit Goethe in Italien mag wohl den Anstoß dazu gege-
ben haben, erklärt aber nicht, warum die Wahl auf den Werther fiel, der
dem Goethe der italienischen Zeit so ferngerückt war. Warum wählte
Moritz nicht die „Iphigenie", an deren Vollendung er durch seine Pro-
sodie so wesentlichen Anteil genommen hatte, warum nicht den „Tasso",
dem er sich ähnlich verwandt fühlte, wie einst dem Werther? Dieser
Rückgriff auf den Werther zeigt ein dauerndes Verfallensein an das Werk,
das ihm die Leiden des eigenen Daseins zuerst gedeutet hatte. Wenn
Rudolf Fahrner Moritz zu den „von Werther Erweckten" zählt4), so hat
er mit dieser säkularisierenden Verwendung eines pietistischen Aus-
druckes feinsinnig die existenzerhellende Kraft dieses Erlebnisses be-
zeichnet, das man wohl mit pietistischen Erweckungsvorgängen in Paral-
lele setzen kann.

Gleichwohl gibt es zu denken, daß Moritzens Äußerungen über den
Werther aus der nachitalienischen Zeit schlechterdings nichts von dieser
allerpersönlichsten Beziehung zu verraten scheinen, die ihm das Buch
einst so wert gemacht hatte. Es sind Ansätze zu einer ästhetischen Zu-
gliederung des Werkes, Splitter einer Gesamtinterpretation seiner Kunst-
form, die er Goethe einmal brieflich in Aussicht stellte und von denen als
einziges wirklich ausgereiftes Stück der Aufsatz „Über ein Gemälde von
Goethe", eine Analyse des Briefes vom 10. Mai in der „Deutschen Monats-
schrift" vom Jahre 1792 bezeichnet werden kann. Gemeinsam ist diesen
Versuchen der streng objektivistische Charakter, die distanzierende Aus-
richtung auf das Werk und die Herausarbeitung seiner Formelemente,
die erstaunliche Verleugnung des Gefühls wesensmäßiger Verwandtschaft,
das einst diese Beziehung gestiftet hatte.

3) Über den Einfluß des Werther auf die Sprache der Zeit s. F. A. Hünich in
der Zschr. f. Bücherfreunde. 1911. N. F. II, 2 S. 300 ff. Über Schiller s. Goethe-
Jahrbuch 3. S. 175 ff. — Die Zeugnisse zur Wertherkrise, auch die hier besproche-
nen von Moritz, sind jetzt gesammelt in meinem Buche: „Zeitgenössische Rezen-
sionen und Urteile über Goethes Götz und Werther". Berlin 1935. (Literarhistor.
Bibl. 14.)

4) S. Rudolf Fahrner: Karl Philipp Moritz' Götterlehre. Marburg 1932. S. 8.
 
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