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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 30.1936

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Lütge, Wilhelm: Das architektonische Prinzip der Matthäuspassion J. S. Bachs
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https://doi.org/10.11588/diglit.14193#0081
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den formalästhetischen Prinzips von Lionardo da Vinci, Michelangelo und A. Dürer);
es ist jenes „Schönheitsprinzip", das, wie Pacinoli 1509 erklärt, sowohl von Gott bei
der Erschaffung der Welt angewandt worden sei, wie es von den Künstlern infolge
göttlicher Eingebung bei ihren Schöpfungen befolgt würde1).

Ich muß es mir versagen, an dieser Stelle die Fülle der Probleme, die hier auf-
tauchen, auch nur zu umreißen. Es soll hier nur darauf hingewiesen werden, daß das
Prinzip des Goldenen Schnittes bei der formalen Gliederung der Kompositionen
Bachs gleichfalls eine überraschend bedeutsame, bisher völlig übersehene Rolle spielt,
womit ein wesentlicher Beitrag geleistet sein dürfte zur Erkenntnis der formalen Seite
—• und nur mit dieser haben wir es hier zu tun — der Bachschen Musik. Und zwar
beherrscht dieses architektonische Prinzip den Bau der Matthäuspassion im kleinen
wie im großen, wobei es vielfach verknüpft ist mit dem Prinzip des vollkommenen
Gleichgewichtes (1:1) sowie mit dem Prinzip der Teilung nach dem Verhältnis 1 : 2
resp. 2:1.

Es muß einer späteren ausführlichen Arbeit vorbehalten bleiben, die Matthäus-
passion in allen ihren Teilen genau zu analysieren. Manche vielleicht wertvollen
Beobachtungen müssen also unter den Tisch fallen. Wir beschränken uns hier darauf,
einige Arien und Chorsätze gleichsam als Beispiele herauszugreifen und ihre formale
Gestaltung näher zu betrachten. Diese Tonstücke sind entweder in der Form der
italienischen Arie oder in der von Bach besonders bevorzugten deutschen Form des
Bar gehalten. Die Form der italienischen Arie resp. der Da Capo-Arie, mit der wir
es meistens zu tun haben, ist bekannt. In einem Bar sollen sich beiden Stollen gleich
oder musikalisch sehr ähnlich sein, während der Abgesang mehr oder weniger selb-
ständig ist (AAB); demgegenüber besteht die Da Capo-Arie, mit der wir es meistens
zu tun haben, aus einem A-Teil, der zum Schluß notengetreu oder leicht variiert
wiederholt wird, während im mittleren B-Teil neue musikalische Gedanken auftau-
chen, die jedoch nicht selten, und zwar bei Bach meistens, thematisch aus dem A-Teil
entwickelt werden (ABA).

Die Frage ist nun: Wie lang sollen, rein taktmäßig oder der Aufführungsdauer
nach die Stollen im Verhältnis zum Abgesang resp. in den Arien der A-Teil zum
B-Teil oder der A-Teil B-Teil, also die eigentliche Arie, zum Da Capo-Teil sein?
Und nach welchem Gesetz oder „innerem Rhythmus" regelt sich in Bar wie Arie die
Gliederung in gesungene und instrumentale Partien (Vor-, Zwischen- und Nach-
spiele)? Die musikalischen Lehrbücher sagen darüber nichts Positives, und so weit
ich sehe, existierte auch für die alten Meister keine hierauf bezügliche Regel, die
allgemeine Gültigkeit gehabt hätte. Bach aber, und auch darin zeigt sich seine so oft
gepriesene formengestaltende Kraft, sein Vermögen, längst gebräuchliche musikalische
Schemata in eine so reife, abgeklärte Form zu bringen, daß wir sie als „objektiv",
als schlechthin vollendet, empfinden, gliedert in der „Matthäuspassion" — und auch
anderwärts — seine Arien und Bare nach jenem reifsten ästhetisch befriedigendsten
Prinzip: nach dem Goldenen Schnitt. Dieses Verhältnis ist nicht etwa nur gelegent-
lich oder annähernd getroffen, sondern zumeist mit mathematisch exakter Klarheit.
Nehmen wir als Beispiel die ersten Sopranarie des I.Teiles, „Blute nur". Die eigent-
liche Arie ist 45 Takte lang, und zwar zählt der A-Teil 28, der B-Teil 17 Takte;
der Da Capo-Teil, in diesem Falle eine notengetreue Wiederholung des A-Teiles, mißt
28 Takte. Wir haben also das Verhältnis 28 : 45 gleich 45 : 73.

*) Dieses Prinzip läßt sich mathematisch mit der folgenden Formel aus-
drücken: Der kleinere Teil verhält sich zum größeren wie der größere zum Ganzen.
In Zahlen: 4,96 : 8,04 = 8.04 : 13 (annähernd).
 
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