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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 30.1936

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Hartlaub, Gustav Friedrich: Musik und Plastik bei den Griechen: Beitrag zur vergleichenden Entwicklungsgeschichte der Künste
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https://doi.org/10.11588/diglit.14193#0151
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MUSIK UND PLASTIK BEI DEN GRIECHEN

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wohl in einer anderen Erscheinungsform, aber im Grunde wesensgleich
wiederkommen müßten. Das von Jahrhundert zu Jahrhundert weiter-
gegebene, schon bei Goethe und Schlegel nur angeführte Wort von der
Architektur als gefrorener Musik (wer erfand es eigentlich?), scheint
in uralten Vorstellungen zu wurzeln. Nicht nur an das Wunderwerk
der Gotik hat man ja immer wieder den musikalischen Vergleich heran-
bringen wollen (Bach als „Gotiker"), sondern genau so fühlte man sich
gerade vor griechischen Tempeln von jeher an klingende Harmonien
erinnert. Gotischer Dom und antiker Tempel sind nun aber solche Höchst-
prägungen der Baukunst, — äußerste Gegensätze zugleich —, bei denen
die Verwendung bestimmter zahlenmäßiger Verhältnisse
augenfällig ist: dies legt die Vermutung nahe, daß immer da, wo die
Zahl und die mathematische Analogie sich aufdrängt, auch der Ge-
danke an die Musik besonders nahe heranrückt. Die Zahl ist das eigent-
liche tertium comparationis, das im Gefrieren und Schmelzen Unver-
lorene! In einfachen Zahlen auszudrückende Verhältnisse herrschen ja
in den Intervallen und Akkorden der Tonkunst. Vielleicht sind es die-
selben Zahlen, wie die der Hauptverhältnisse in den bildenden Künsten?
Uralter Traum von Pythagoras bis Mersenne, aber auch heute noch
nicht ausgeträumt. „Denn es sind offenbar dieselben Zahlen", sagt ein
L. B. Albern3), „durch welche das Zusammenklingen der Stimmen den
Ohren der Menschen angenehm erscheint, und welche auch die Augen
und die Seele mit wunderbarer Lust erfüllen. Wir werden daher die
ganze Regel der Ausgestaltung von den Musikern übernehmen, welchen
jene Zahlen am vollkommensten bekannt sind."

Der Gedanke, daß gerade bei den Griechen, wo schon das Leyer-
spiel Amphions die thebanische Mauer erbaut haben soll und wo Or-
pheus' Gesang die toten Steine belebte, eine mythische Hochzeit der
Musik und der Architektur gefeiert worden ist — wobei die Baukunst
gleichsam der weibliche Teil war — bedeutet mehr als ein dichterisches
Gleichnis4). Gerade im Blütezeitalter der dorischen Baukunst und ihrer
strengen Maßverhältnisse haben wir die Entfaltung des pythago-
reischen Gedankens in Hellas und damit eine besondere Würde der
Zahl in ihrer Verkörperung als Ton. Die zu Grunde liegende Er-
fahrung, das Urphänomen der Pythagoreer, berührt auch uns noch
wunderbar genug. Teile ich eine Saite des Monochords, das die Pytha-
goreer ihren „Kanon" nannten, indem ich mit dem verschiebbaren Steg
ein Halb, ein Drittel, ein Viertel abtrenne, so erklingt auf dem Rest der

3) „de re aedificatoria", Hb. IX. cap. 5.

4) Mit ähnlicher Hartnäckigkeit wie das Wunschbild der Auswechselbarkeit
von Bau und Musik hält sich ja auch die Spekulation und Forschung über Farbe-
Tonbeziehung, Synästhesie u. ä. Auch hier Entsprechungen von Räumlichem und
Zeitlichem.
 
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