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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 30.1936

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Kühlhorn, Walther: Dichtung und Tendenz
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https://doi.org/10.11588/diglit.14193#0198
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Diese Grundeinstellung des Dichters bewirkt es, daß auch in der eigentlichen
Dichtung nicht bloß das Erlebnis des menschlich Schicksalhaften sich darstellt, son-
dern zugleich eine Stellungnahme erfolgt. Sie liegt, wie gesagt, schon in der Wahl
des Stoffes, natürlich aber auch, und noch viel mehr, in der Art, wie dieser Grundstoff
in seinen innerlichen Beziehungen und seiner wesentlichen Bedeutung gestaltet wird.
In Goethes „Iphigenie" z. B. „siegt" nicht die Gesinnung des Pylades, sondern die der
Heldin, welche aus edlem Gefühl heraus die unbedingte Sittlichkeit entwickelt-

Daß die reine Dichtung nicht etwa, weil sie eine Stellungnahme enthält, zu-
gleich Ideendichtung im üblichen Sinne des Wortes ist, wird klar werden, wenn nach-
her die Besonderheit der wirklichen Ideendichtung aus dem künstlerischen Schaffens-
vorgange abgeleitet wird.

In einer reinen Dichtung ist die Stellungnahme des Dichters, der Grundgedanke
des Werkes, im natürlichen Erlebnisstoffe (dem Menschen und seinem Schicksale) ent-
halten und von vornherein grundsätzlich bestimmt. Sie ist der Ausschlag des natür-
lichen Erlebnisstoffes ins Metaphysische. Der Erlebnisstoff ist sinnlich und übersinn-
lich zugleich, sinnlich in der sich darbietenden Gestalt, übersinnlich in dem dieser
Gestalt innewohnenden Gehalt. Das übersinnliche Wesen einer reinen Dichtung wird
vom Leser zugleich mit dem sinnlichen unmittelbar durch die Anschauung aufgenom-
men, wird unmittelbar im Gemüt erfahren und geglaubt. — Daß die „Idee" alsdann
den Leser auch gedanklich in Anspruch nimmt, macht eine solche Dichtung immer
noch nicht zur Ideendichtung.

III.

Rückte in dem eben beendeten Gedankengange die reine Dichtung scheinbar nahe
an die Ideendichtung heran, so tut sie es in einem andern Falle tatsächlich. Es ist
denkbar, daß der Künstler zunächst von einem natürlichen Erlebnisstoffe (der Mensch
und sein Schicksal) gepackt wird, daß dieser Stoff aber nicht erst bis in jene Tiefe der
Seele des Dichters versinkt, aus der heraus er als eigenlebiges Kunstwerk neu gebo-
ren wird. Vielmehr drängt sich die übersinnliche Seite des Erlebnisstoffes, die ja wie
gesagt in jedem natürlichen Stoffe enthalten ist, vorzeitig in dem Schaffensprozesse
hervor, und die Entfaltung des Natürlich-Lebendigen erstarrt zu früh. Dadurch ent-
steht in dem Werke ein Mißverhältnis: der übrige Körper ist zu klein für den intel-
lektuellen Schädel. Dies Kunstwerk wird nicht eigentlich erfühlt oder in unmittelbarer
Schau erfahren, es muß bedacht werden. Es ist eine Ideendichtung geworden. Idee
bezeichnet aber nun etwas anderes wie in der reinen Dichtung. In der Ideendichtung
ist die Idee mit einem Ausdruck der Aufklärungszeit als „allgemeine Wahrheit" an-
zusehen, die sowohl Bestandteil jeder „Idee" oder seelischen Grundhaltung des Künst-
lers — als auch von ihr beachteter Gegenstand sein kann.

Die Art, wie wir soeben das Zustandekommen einer Ideendichtung geschildert
haben, ist die schonendste und entgegenkommendste. Meist wird der Vorgang sich
ganz anders abspielen. In der Ideendichtung ist das Grunderlebnis gar nicht der
Mensch und sein Schicksal in einer natürlichen Gegebenheit, sondern eben eine „all-
gemeine Wahrheit", vielleicht eine solche aus dem Gebiete der Welterkenntnis (z. B.
der Religion), öfter wohl noch aus dem Gebiete der Sittlichkeit.

Soweit also der Verfasser einer Ideendichtung durch sein Erlebnis überhaupt
erschüttert wird, geschieht es durch eine Erfahrung der Erkenntnis und der ver-
standesmäßigen Einsicht, es ist ein lehrhaftes, ein theoretisches Erlebnis. Die „all-
gemeine Wahrheit" ist Anstoß zum Schaffen und sein eigentlicher Gegenstand. Sie ist
zunächst nur durch einen Denkvorgang zu erkennen. Ein Kunstwerk muß aber durch
die Sinne auf das Gemüt wirken, es soll durch Anschauung unmittelbar erfahren
 
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