Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 30.1936

DOI Artikel:
Gesellschaft für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft
DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.14193#0219
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
BERLINER VERANSTALTUNGEN DER GESELLSCHAFT 205

Dieser Urgrund ist aber auch Abgrund, und es hängt vielleicht nicht von der freien
Wahl des Künstlers ab, ob er von den gefährlichen Tiefen nur berührt und begnadet,
oder erfaßt und verzerrt werden wird. An Werken von Marc, Nolde und Schmidt-
Rottluff wird sichtbar, wie der Künstler die Welt der Blühekräfte des Vegetativen
und jene andere, in der Drang, Trieb und Angst des Tieres walten, aufreißt und in
sie einsteigt. Die Nähe dieser Elementarwelt, die das Wesen alles wirklichen Künst-
lertums mitbestimmt, ist zugleich dräuende Gegenwart von Zerstörungsgewalten.
Das Wagnis des Ständig-in-ihrer-Nähe-lebens und das Bedürfnis dazu ist ein Grund-
zug deutscher Gestaltungskraft. Mehrere — und zwar die als ursprünglich und echt
anzusehenden und von den Mitläufern und Nachahmern streng zu sondernden —
Expressionisten zeigen in ihrer Bildgestaltung wieder jene Rotationskraft, deren
Schwungdynamik von den frühesten nordischen Kunstwerken her durch Romantik
und Gotik bis ins Spätbarock erhalten geblieben ist. Ein solches Rotieren des
„Schwungrades des Lebens" ist ein Ausdruck schöpferischsten deutschen Lebens-
gefühls, und es bekundet sich in den Meisterwerken des Expressionismus.

Natürlich speisen uns harmonische Menschen und harmonische Werke mit an-
deren Kräften als es jene Künstler und Werke tun konnten, aus denen der innere
Protest gegen die bequeme, feige und dekadente Lebensform der Vorkriegsgeneration
ausbrach. Ihre peinlichen Verzerrungen sind nie ein Ideal, wohl aber die notwendige
Aufdeckung einer seelischen Situation gewesen. Kunstwerke wachsen auf dem Boden
des Lebens. Wird dieser durch Ängstlichkeiten und Sicherungen unfruchtbar gemacht,
so suchen die Lebenskräfte die Tiefe auf und sammeln dort Explosivstoffe an. Die
höchste und als Ideal zu ersehnende Leistung ist: mitten im Schwung der urtüm-
lichen schöpferischen Mächte aufrecht stehen zu bleiben. Aber diese Leistung kann
nicht bestellt oder erzwungen werden, und wer aus Angst vor beunruhigenden Ent-
deckungen auf die Gefahr, in dämonisch geladene Seelenregionen einzudringen, von
vornherein verzichtet, verzichtet damit auf das Künstlertum selbst. — Dem Vortrag
folgte eine lebendige Aussprache.

Am 23. Mai sprach Prof. Dr. Justus HermannWetzel über S p i 11 e 1 e r.
Der Vortragende ging von der bedeutsamen Verkennung und Nichtbeachtung des
Schweizer Dichters Carl Spitteier und seines Werkes aus. Er betonte die welt-
offene und weltmännische Lebensführung dieses zugleich kindhaft und männlich in-
brünstigen Liebhabers des Lebens, dieses mitleidenden Beklagers und seherisch trotzi-
gen Anklägers seines automatenhaften Zwanglaufes.

Spittelers Werk baut sich dreigliederig auf: aus den mystisch-kosmischen Vers-
Epen (den Kern- und Gipfelwerken) —, aus den realistischen Gegenwartsdarstel-
lungen (Novellen, Romane, Bühnenstücke) —, aus den journalistischen Berichten,
Plaudereien und aus seinen ästhetischen Studien. Unter den Epen behandeln Prome-
theus und Epimetheus (1867—81) und Prometheus der Dulder (1911—24) (die Alters-
fassung des gleichen Stoffes) das menschliche Urthema: das Ur-Ich gegenüber der
trügerischen Welt; — der Olympische Frühling (1898—1910) das gewaltige bunte
Menschenleben in extramundaner Projektion und aus übergeschichtlicher Perspektive.

Spittelers Prometheusmythus hat mit der antiken Sage nur vageste Gemeinschaft.
Hier handelt es sich um geistiges Titanentum mit seinem Anspruch auf das regula-
tive Vorrecht der Seele (des Ur-Ichs) vor den Konventionen und Traditionen der
Gesellschaft, um die Überordnung eines extramundan-künstlerischen Weltbildes über
die wirtschaftlich intramundan begrenzte Gesellschaftsordnung. Sublime Propheten-
schau gegen nutzbehaftete Bürgermoral. (Das gleiche Thema in persönlicher und
gegenwärtiger Instrumentierung im Roman Imago.) Die Lösung dieses Konfliktes
bringt die Einsicht, daß der prophetisch-künstlerische Anspruch lediglich die Geltung
 
Annotationen