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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 30.1936

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https://doi.org/10.11588/diglit.14193#0303
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BESPRECHUNGEN

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kämpfung dieser Art Naturwissenschaft (Bölsche, France). Es entsteht ein neuer
Naturbegriff des Schöpferischen, die Entwicklungslehre wird positiv gewendet,
Nietzsche gibt dem Lebensbegriff neuen Glanz. Das ist die Stellung auch der Lebens-
bejaher, deren weltanschauliche Entwicklung von Haeckel über Nietzsche zu Goethe
geht. Denn auch bei Nietzsche blieben sie nicht stehen; sie folgten ihm anfangs,
wandten sich dann aber gegen ihn. Teils bekämpften sie das zu Denkerische in ihm,
teils sahen sie in ihm den Romantiker (Begriff des Übermenschen). Die Lebensbejaher
setzten dem Übermenschen den Menschen entgegen, entwuchsen Nietzsches Führung,
kamen zu Goethe. „Mehr Goethe!": das war ihr Ruf. Goethe bedeutete den Lebens-
bejahern das Ideal als Mensch. Allerdings hatte ihnen im wesentlichen nur der junge,
der Sturm-und-Drang-Goethe etwas zu sagen, und auch der nur ganz untragisch
gesehen, seine Erotik, sein „Heidentum", seine „Harmonie".

Die Weltanschauung der Lebensbejahung fußte allerdings teilweise im Naturalis-
mus und war jedenfalls insoweit mit ihm eines Sinnes, als man Front machen wollte
gegen eine epigonenhafte, schwächliche und innerlich leere Konvention in Denken und
Dichten. Aber der Naturalismus entpuppte sich dabei als eine Aufklärung, ein
Rationalismus — man denke nur an sein materialistisches Programm, ja Rezept des
Dichtens —, und das mußte die Lebensbejahung ebenso bekämpfen wie jene frühere
Konvention. Der Gegensatz gegen die epigonenhafte Konvention stellt die Lebens-
bejahung neben den Sturm und Drang des 18. Jahrhunderts; und wie aus diesem
einerseits die Romantik, andrerseits die Klassik entstand, so läuft von der Lebens-
bejahung die Entwicklung einerseits zur Neuromantik, andrerseits zu einer neuen
Klassik. Die Lebensbejahung selbst kann man kennzeichnen als einen „Sturm und
Drang, der sich zur Klassik klären möchte". Und wenngleich es meist bei dieser
Absicht geblieben ist, so hat die Bewegung jedenfalls eine Aufgabe klassischen
Geistes klar erfaßt, nämlich das Bewußtsein von der Kulturaufgabe des Dichters,
das sie gleichzeitig zu Gegnern des l'art pour l'art-Standpunktes machte. Hierin liegt
zum entscheidenden Teil die beispielhafte Bedeutung, die der Lebensbejahung für die
unmittelbare Gegenwart zukommt. Diese wirklichkeitskräftige, kulturbewußte Hal-
tung brachte die Lebensbejahung naturgemäß in verstärktem Maße in Gegensatz zu
den dekadenten Entwicklungsstadien, wie sie sowohl der Naturalismus wie die Neu-
romantik zeitigten; denn jede Decadence mußte dem Lebensbejaher denkbar wesens-
fremd sein.

Meist war den Vertretern der Lebensbejahung, wie schon berührt, ihre betonte
Sonderhaltung nicht von vornherein klar, sie haben vielmehr manche Entwicklung
durchgemacht; auch war solches Bewußtsein bei den einzelnen Vertretern in sehr
verschiedenem Grade ausgebildet: am meisten bei Dehmel, fast gar nicht bei Lilien-
cron. Wie sich die Stellung der Lebensbejaher zu Nietzsche änderte, so beispiels-
weise auch die zu Zola: der Naturalist Zola beeinflußte sie, solange sie mit dem Na-
turalismus dessen „Wahrheits"begriff huldigten; sobald sie aber gegen diese „Wahr-
heits"forderung ihre „Lebens"forderung ausspielten, entdeckten sie auch in Zola die
lebensbejahenden Züge. Sie wandten sich vom materialistischen Sozialismus dem In-
dividualismus zu, der Mitleidsmoral des Naturalismus setzten sie eine neue Glücks-
moral, dem Pessimismus, wie er notwendige Folge des Naturalismus und nicht
minder der Neuromantik war, einen Lebensoptimismus entgegen. Der Kampf der
Lebensbejahung galt ja gleicherweise der Neuromantik wie dem Naturalismus. Zwar
fußten Lebensbejahung wie Neuromantik beide in der Gegnerschaft zum Naturalis-
mus und versandeten auch beide in der allgemeinen bürgerlichen Decadence vor dem
Weltkrieg, sonst aber sind sie ihrem Wesen nach völlig gegensätzlich. Und zwar ist
die Abkehr der Lebensbejahung von der Neuromantik ebenso wie vom Naturalismus

Zeitschr. f. Ästhetik u. allg. Kunstwissenschaft. XXX. 19
 
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