Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 30.1936

DOI Artikel:
Besprechungen
DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.14193#0349
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
BESPRECHUNGEN

335

den „drei Epochen" bringt es mit sich, daß die Darstellung wesentlich Wissen-
schaftsgeschichte im engeren Sinne bleibt. Doch geht Nohl heuristisch keineswegs
über Dilthey hinaus. An welchen sehr verschiedenen Punkten innerhalb der Mannig-
faltigkeit des geschichtlichen Lebens sich Gedanken über Kunst, Besinnung auf die
Grundlagen künstlerischen Schaffens entwickeln, das bleibt ebenso unbestimmt wie der
Begriff der „ästhetischen Wirklichkeit" selbst, und Nohl hält fest an der Gleichsetzung
objektiv-rationale Ästhetik = Renaissance; Geschmacksästhetik = französisch-
englischer Sensualismus, homme d'esprit, genießendes Epigonentum; Ästhetik des
Schaffens = Geniezeit, Sturm und Drang, während sich die der Gegenwart nähere
Zeit in eine schwer zu übersehende und zu ordnende Reihe von Schulbegriffen auf-
löst (Kant, Ästhetik der Klassik, der Romantik, Ästhetik von Unten usw.). Nohl
begnügt sich mit dem allgemeinen Hinweis auf die „künstlerische Gesamtkultur der
Antike" (im einzelnen findet etwa das „nescio quid" bei Cicero und die Rhetorik in
ihrer Bedeutung für die „Stile" Erwähnung) und wird weder der anthropologischen
Bedeutung der „ratio" in Mittelalter und Renaissance noch dem Begriffe des Schönen
im Denken des letzteren Zeitalters gerecht, ja, er nimmt im Kapitel über die Renais-
sance nicht ein einziges Mal Bezug auf die italienischen Platoniker. Doch lassen
sich wiederum einzelne erleuchtende Bemerkungen aus dem Zusammenhang heraus-
lösen. So wird die doppelte — und vielleicht tief im italienischen Temperamente wur-
zelnde — Leidenschaftlichkeit der Renaissance eindringlich beschrieben: die forza,
grandezza, magnificenza, terribilitä (nach Heinse, Stendhal, Burckhardt), von Michel-
angelo in höchster Steigerung verkörpert; und der „entusiasmo" der Erkenntnis
(„che bella cosa e la prospettiva"; „destruggi tutta la mia musica"), der in der „Pro-
portion" sein zugleich künstlerisches und mathematisches Symbol findet. Ferner
wird in etwas eigentümlicher Wortfügung die Renaissance in ihrem „gegenständlichen
Verhältnis zum Affekt" gekennzeichnet. „Die Theorie des direkten Ausdrucks der
Empfindung, der subjektiven Leidenschaft kommt doch in dieser Zeit nur in der
Ästhetik der Musik zu Wort."

Die Musik erscheint also hier kraft ihrer „Funktion" als die Trägerin einer neuen
künstlerischen Möglichkeit, sie weist voraus, und damit ist ein weiteres Bemühen des
Nohlschen Buches angedeutet: die Wandlung der Ästhetiken — oder des Geschmacks?
oder des künstlerischen Bewußtseins? — dialektisch zu begreifen. Es werden deshalb
am Ende eines jeden Kapitels die „Grenzen" der jeweiligen Ästhetik aufgewiesen und
auch die Nationalcharaktere für den Wandel der Kunststile verantwortlich gemacht;
so werden am Schlüsse des Renaissancekapitels z. B. zwei so gefährlich schillernde
Begriffe wie innere und äußere „Form" als germanisch und romanisch einander gegen-
übergestellt. Sehr knapp wird der Barock beschrieben: gleichzeitig mit der Auflocke-
rung des Rationalen in der literarischen Kritik (der Hinweis auf Shaftesbury, Batteux,
Montesquieu wäre hier vielleicht besser als im folgenden Kapitel am Platze gewesen)
entfaltet sich das „Erhabene" und findet seinen vollkommensten Ausdruck in der
Musik. Im Kapitel über die Geschmacksästhetik finden sich lehrreiche psychologische
Bemerkungen über Sexus und Kunstschaffen; „sagt doch schon Opitz, daß die Poeten
niemals mehr sinnreiche Gedanken und Einfälle haben, als wenn sie von ihrer Buhl-
schaften himmlischer Schöne, Jugend, Freundlichkeit, Haß und Gunst reden". So
preist auch Descartes, von dessen Kunstfeindlichkeit (Nohl S. 41) wir uns nicht über-
zeugen können, im „Discours de la methode" die Dichtkunst als eine edle Beschäfti-
gung des jungen Menschen. Und wir sind sicher, daß sich leicht die eine oder andere
Äußerung des „amusischen" Kant auffinden ließe, die sich vortrefflich in diesen
Zusammenhang einfügen würde. ...
 
Annotationen