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Ein modernes Märchen.

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erst mit süßen Liebesnamen zurück — bald hörte er sie nicht
mehr. Da fing sie an zn nähen. Ich glaube, sic mußte an-
fangen, denn ihr Mann verdiente wohl kaum das zum Leben
Nothwendige. Und so nähte sie viele Jahre, wortlos, denn sie
durste den Mann nicht stören — gedankenlos, denn sie hatte nur
an ihre Näharbeit zu denken — thränenlos, denn ihre Geistes-
und Herzens-Bedürfnisse waren längst abgestorben. Im Anfänge
war sie verzweifelt, elend gewesen; jetzt war sie stumpf, gleich-
l gültig gegen Alles; — stier sah sie ans ihre Arbeit, stier ans
ihren grübelnden Gemahl. — Heute hatten sie wieder so
gesessen. Vom nahen Thurme schlug es acht Uhr. Johanna
erhob sich, wie immer zu dieser Zeit, gleich einer mechanischen
Figur, und setzte ein ärmliches Abendbrod zurecht. Wie ge-
wöhnlich nach drei- bis viermaligem Rufen setzte sich l)r. Solms
zum Essen, immer seine Gedanken weiterspinnend. Das Mahl
war bald beendigt.

„Wollen wir noch ein wenig spazieren gehen?" frug
! l)r. Solms.

Das gehörte auch mit zum täglichen Pensum. Unterwegs
grübelte der Doktor über irgend eines der schwierigsten Axiome.

Sie gingen über die Straße — der Doktor gebückt und zur
Erde blickend, die Frau an seinem Arme steif emporgercckt, theil-
nähmslos in's Leere starrend.

„Laß uns heute diesen Weg gehen!" sagte vr. Solms.

Seine Frau dachte nicht weiter über diese Worte nach,
aber sic wußte mechanisch, daß ihr Gemahl irgend etwas wegen
seiner philosophischen Arbeit unternehmen wollte. Sie traten
in einen Buchhändlerladen. Beim Anblicke des Chefs der
Handlung leuchtete des Doctors Auge ein ganz klein wenig auf.
Jener empfing ihn eben nicht freundlich.

„Wie steht's mit dem zweiten Bande?" frug herzklopfend
der Doctor.

„Schlecht, sehr schlecht! Ich weiß nicht die Zeit, daß ein
einziges Exemplar verkauft ist!"

Der arme Autor wurde todtenbleich. Der Buchhändler
fühlte Mitleid. Er nahm einen etwas mildern Ton an.

„Ja, wissen Sic, Herr Doctor, das Buch ist ja sehr
gelehrt, sehr instrnctiv, aber — die Leute — ich hab's noch
! neulich einem Kritiker zur Besprechung in seinem Blatte gegeben;
was sagte er: „Ich will's gern besprechen, aber lesen kann
ich's nicht!"

Ur. Solms stöhnte ans.

„Der dritte Band wird bald fertig sein, dann —"

„Nein, nein," unterbrach ihn der Buchhändler, „das geht
nicht, unter keinen Umständen kann ich noch mehr riskircn!
Ich drucke den dritten Band nicht!"

„Aber, mein Gott," stammelte der unglückliche, alte Mann, ,
„Sie sagten doch damals —"

„Ja, damals, ich habe mich geirrt; die Geschichte kostet
mich jetzt schon eine Summe Geldes; ich thu's nicht, sage ich
Ihnen!"

Der graue Kopf des Alten senkte sich noch etwas tiefer;
aber er konnte nur einen unartikulirten Schmerzenston Hervor-
bringen. — „Es thut mir wirklich leid," sagte noch der Buch-

händler, „vielleicht wenn Sie etwas Anderes —" — hier mußte
er sich einem Käufer zuwenden, der nach dem Preise eines
Buches fragte.

l)r. Solms und seine Frau traten wieder auf die Straße.

Er schritt noch gebückter, als sonst, einher, sie hielt sich noch !
steifer in die Höhe gereckt. Jetzt fühlte sie, daß die ganze
Gestalt ihres Mannes erzitterte. Das war aber oft so gewesen,
wenn er auf seinen Spaziergängen geglaubt hatte, einen großen !
Gedanken erfaßt zu haben. Sie dachte weiter nichts dabei. Jetzt
waren sie an eine Gartenmauer gekommen, und es schien, als
ob den alten Mann einen Augenblick die Kraft verlassen wolle. |
Er lehnte sich an die Mauer. Die Frau stand still, zog aber
ihre Hand nicht aus dem Arm des Mannes.

„Fehlt Dir etwas?" fragte sie mechanisch, ohne irgend
eine Antwort zu erwarten. Aus dem Garten aber, an dessen
Mauer der Gelehrte lehnte,, tönte fröhliches Lachen. Dem Doctor j
ganz nahe war eine Laube, in welcher eine Mutter ihren vier
Kindern aus einem Buche vorlas. Und die Kinder lachten so
fröhlich und herzlich, daß der herzucilcnde Vater schon in der
Ferne anfing, mitzulachcn, und daß die lesende Mutter vor Glück
über die Freude ihres Gatten und das Jubeln ihrer Kinder
nicht weiterlesen konnte.

Was für ein Buch war das, das solche Freude erregen
konnte?

vr. Solms stemmte sich krampfhaft auf die Mauer und
reckte sich weit vor. Es gelang ihm, einen gierigen Blick aus
den Deckel des Buches zu werfen, das die glückliche Mutter
jetzt halbgefchlossen in der Hand hielt.
Bildbeschreibung

Werk/Gegenstand/Objekt

Titel

Titel/Objekt
"Ein modernes Märchen"
Weitere Titel/Paralleltitel
Serientitel
Fliegende Blätter
Sachbegriff/Objekttyp
Grafik

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Aufbewahrungsort/Standort (GND)
Universitätsbibliothek Heidelberg
Inv. Nr./Signatur
G 5442-2 Folio RES

Objektbeschreibung

Maß-/Formatangaben

Auflage/Druckzustand

Werktitel/Werkverzeichnis

Herstellung/Entstehung

Künstler/Urheber/Hersteller (GND)
Wagner, Erdmann
Entstehungsort (GND)
München

Auftrag

Publikation

Fund/Ausgrabung

Provenienz

Restaurierung

Sammlung Eingang

Ausstellung

Bearbeitung/Umgestaltung

Thema/Bildinhalt

Thema/Bildinhalt (GND)
Karikatur
Satirische Zeitschrift

Literaturangabe

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Künstler/Urheber (GND)
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Digitales Bild
Rechtsstatus
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Fliegende Blätter, 70.1879, Nr. 1747, S. 18

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