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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 19,2.1906

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Heft 16 (2. Maiheft 1906)
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Rundschau
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https://doi.org/10.11588/diglit.8629#0242

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andrem als Star-Moden und Diri-
gentenbefeierungen sieht, für Leipzig
recht traurig. Diese Stadt ist noch
der unbestrittene Mittelpunkt des
deutschen Buchhandels und Musik-
verlags, ein hervorragender geistiger
Brennpunkt, eine bienenfleißige Han-
dels- und Jndustriestadt: Die snh-
rende „Musikstadt" aber ist sie nicht
mehr. Dazu sehlen ihr die äußeren
und inneren Bedingungen: Musik-
bildungsanstalten, in denen Neform
des Unterrichts und frische Fort-
schrittsluft, Musik vermittelnde An-
stalten, in denen dieselben Eigen-
schaften zu Hause sind, und — Kom-
ponisten. München, Berlin, Stutt-
gart, Prag, all diese Städte haben
Leipzig darin überflügelt. Eine sörm-
liche Komponistenschule wie im heuti-
gen München hat es seit den Tagen
der sogenannten „Leipziger Schule"
der Romantik um Mendelssohn unb
Schumann nicht wieder besessen; der
greise Reinecke ist ihr letzter Wäch-
ter, vorbildlich in der Reinheit nnd
dem sittlichen Ernste seiner Kunst-
auffassung. Jm übrigen kündet auch
das Zeichen den allmählichen Rück-
gang: Leipzig hat sich durch Jahr-
zehnte daran gewöhnt, alles dnrch
die oder besser durch seine „Tra-
dition" zu betrachten und läuft Ge-
fahr, dabei einzuschlafen. Es bleibt
seinem Wahlspruche treu: lüpsin vult
exspsctLre, es nimmt norddeutsch-
kritisch und kühl-abwartend auf, es
hilft nicht in Begeisterung und Schaf-
fensfreude mit.

Leipzigs Ruhm als Musikstadt
steigt und sällt mit dem Gewand-
hause. Sein letztes Winterprogramm
bestätigt unsre Beobachtungen: Die
Ausbeute an Neuheiten, jenen Grad-
messern für die Stärke der musika-
lischen Entwicklung einer Stadt, ist
über alles Erwarten bescheiden. Das
hohe Verdienst Nikischs um die mühe-
volle allmähliche Einsührung Bruck-
ners in Leipzig — er brachte dies-

mal die achte Symphonie — soll
hier nachdrücklich festgestellt, die her-
vorragende Leistungsfähigkeit des Or-
chesters sreudig anerkannt werden.
Wenn aber in letzter Saison nur
eine wirkliche Neuheit, Elgars
Enigma-Variationen, geboten wurde,
so scheint diese Tatsache zu beweisen,
daß dem außerhalb Leipzig doch sür
alles gute Neue eintretenden Nikisch
durch irgendwelche unglückliche Ein-
richtungen die Hände gebunden sein
müssen. Hierin wie auch in der
Wahl der Solisten hat das Gewand-
hans seinen alten Ruhm der Vor-
bildlichkeit für europäische Kon-
zertanstalten bereits verloren. Will
man hier Neues hörew, so nmß man in
die Gewandhaus-Kammermusiken und
zu den Philharmonikern nnter Hans
Winderstein, ihrem energischen Füh-
rer, gehen. Durch die „M^dernen
Abende" dieser Konzerte hat Leipzig
mit den Führern moderner Musik,
mit Rich. Strauß, Mahler, durch die
übrigen Konzerte mit zahlreichen,
hier noch unbekannten Werken und
sorgsam ausgewählten Solisten Be-
kanntschast gemacht. Leider macht
der Riesensaal des Zoologischen Gar-
tens intimere Wirkungen znnichte.
Von den eigentlichen Neuheiten war
Baußnerns Champagner - Ouvertüre
leider eine Ni-ete, Keußlers sympho-
nische Phantasie nicht mehr als eine
talentvolle, doch noch völlig unselb-
ständige Anweisung auf die Zukunft.
Möchte der Dirigent dadurch nicht
irre werden; es gilt in Leipzig an-
gestrengt zu arbeiten, um die Ver-
bindungsfäden mit der modernen
Musikentwicklung nicht aus der Hand
zu lassen. Da wären denn z. B.
d'Jndh (eine Symphonie), Chausson,
l Bantock, Borodin (H-moll-Sympho-
j nie), Sinding (D-moll-Shmphonie),
Alfvsn, Sibelius (eine Symphonie)
und andere Spitzen moderner aus-
ländischer Musik zu Belehrung und
Vergleich einmal heranzuziehen und so

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