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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 19,2.1906

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Heft 16 (2. Maiheft 1906)
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Lesekultur
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Bode, Wilhelm von: Die Erhaltung von Alt-Weimar
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https://doi.org/10.11588/diglit.8629#0193

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einsetzen könnte. Er wird sich zu Menschen slüchten, bei denen die
Sprache noch Zeugnis eigener Auseinandersetzung mit den Dingen,
Gedanken und Gesühlen ist. Er wird sich nicht scheuen, sie ost Ge-
sagtes und längst Gehörtes wiederholen zu lassen. Er wird lieber
znm sechsten Male eine Stunde bei Goethes Werther oder bei Kel-
lers Grünem Heinrich zu Gast sein, als in den Abgrund der Be-
trachtung zu steigen, den der weltpolitische Wochenschauer seines Tage-
blattes vor ihm erdunkeln läßt. Seltsam, wie oft uns dann Alt-
bekanntes als ein neues Land erscheinen wird, das seine zarten
Blüten und goldigen Fernblicke nun erst eröfsnet zu haben scheint.
Während wir mit den Leitartiklern in Korea, Südafrika oder Marokko
waren? Nein: während wir zwischendurch doch eben auch dort ver-
kehrten, wo die großen Herren ihr Gut herholten, im Leben selber,
während wir in Arbeit und Aelterwerden Geist und Gemüt, Wissen
und Wollen, Anschauen und Empsinden weiteten und kräftigten bei
Verlust und Gewinn. Halten wir nun einmal wieder im Schatten,
kühlen die Stirn und sragen die Unsterblichen um dies und das,
so haben sie mit den alten Worten neue Antwort.

„Was gibt's heute Neues?" Wie guten Wert die Frage hat sür
jeden, dem sie eine der Dienerinnen ist, die ihm austragen helfen,
woraus er wählen soll, was nährt: sie macht erbärmlich plebejisch,
wenn sie uns als Tyrannin der geistigen Küche bestimmt: dieses issest
du eben und damit basta. Das Heute ist ja nur einen Tag lang,
unser Leben hat zehntausend, und im Ganzen der Menschheit, das in
uns spiegeln soll, ist es doch nur eine Minute. Die Frage: „Was
gibüs Altes?" hätte also eigentlich mehr Wichtigkeit. Die wichtigste
aber wäre: „Was gibt's Bleibendes?" Sein Lesen so einzurichten,
daß es zu verstehen mithelfe, warum die Schifflein unter den Winden
des Tages heute so segeln und morgen so, will sagen: verstehen helfe,
ihren Bau und was ihn lenkt, verstehen auch, soviel Menschengeist ver-
mag, warum die Winde heute so gehen — das wäre ein Ziel echtev
Lesekultur. Bleibendes zu gewinnen, das das einzelne als Erscheinung
zu erfassen, einzuordnen und womöglich zu begreisen besähige. Dann
wären wir in unserm Hirn seine Herren, während wir uns jetzt
vom Zufall des Tages kommandieren, hetzen, erniedrigen und klein
machen lassen. LF

Vie brkallung von ^lt-Meiniar

Vor hundert Jahren war Weimar ein Städtchen von 6000 Ein-
wohnern, die in 800 Häusern wohnten. Diese Zahlen sagen schon, daß

* Wir bringen diesen Aufsatz gern, obgleich Vieles darin Vielen sehr
„überraschlich" und noch Mehreres den Meisten sehr nnerquicklich klingen wird.
Es scheint eben auch uns an der Zeit, einmal recht ruhig und nüchtern das
Mögliche ins Auge zu fassen, wo so viel geschwärmt wird, und gerade-Bode,
der Leiter der „Stunden mit Goethe", ist vor dem Verdachte gefeit, es fehle
ihm an Pietät. Aber wir erwarten von dem Fortschreiten der ästhetischen
Kultur doch mehr als Bode, auch für Weimar, und insbesondere halten wir
eine Bewahrung und Wiederherstellung des Goetheplatzes als ein National-
monument nicht nur für wünschenswert, sondern auch für möglich. A

^ Runstwart XIX,
 
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