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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 19,2.1906

DOI Heft:
Heft 18 (2. Juniheft 1906)
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Avenarius, Ferdinand: Ibsen
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https://doi.org/10.11588/diglit.8629#0313

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Zweites Juniheft 1906


Die Gegenwart hat ihren größten Dichter verloren, als Jbsen
starb. Wie stolz das Wort austrmnpft, wer weiß sonst einen Namen
an die Stelle zu setzen, die seine Bewunderer dem Jbsens geben?
Und wir tnn's nicht etwa, weil wir dächten: diese Jahrzehnte sind
an guten Dichtern eben arm, wir tun's in dem Glanben, daß Jbsen
wirklich einer der wenigen Großen war, die durch unsre Zeit zur Un-
sterblichkeit gegangen sind.

Seiner ersten Wirkung insbesondere auf uns Deutsche werden
sich am besten die erinnern, die jetzt vielleicht aus ein halbes Hun-
dert von Jahren zurückblicken; sie waren damals noch jung genug,
um vor dem Neuen nicht erst das Vorurteil der Gewöhnung nieder-
kämpfen zu müssen, und doch schon zu alt, um mit dem Neuen nur
zu schwärmen. Man hatte bis dahin von dem nordischen Dichter
als von dem Versasser zumeist „historischer" Theaterstücke gewußt,
in denen man natürlich noch nicht, wie wir Heutigen, die Keime
des Kommenden sah. Seine „Gesellschastskritiken in Dramensorm",
denn so erschienen die spüteren Werke zunüchst, wirkten wie etwas
Neues auch innerhalb der Jbsenschen Kunst. Nun verwandelten sich
die wenigen Schauspielhüuser, die diese Stücke zu geben wagten,
in Kampsplätze, auf denen man von rechts und links mit Zischen
und Beifall um einen Parteisieg rang. Das Zischen war nicht nur
all des Fremden, Schrosfen, Harten wegen keinem übel zu nehmen,
es war vor allem entschuldbar, weil manches, was aus der Bühne
gesprochen ward, zunächst sich auch vom Bestwilligen kaum recht
verstehen ließ, sodaß wir jungen Begeisterten, um die Dentung ge-
fragt, oft in schlimme Verlegenheit kamen. Was auf uns wirkte,
das freilich wußten wir doch. Da war ein Schauspiel, das uns
das Leben in aller Natürlichkeit zeigte mit Austritten, wie sie sich
in der Wirklichkeit begeben konnten, und wir dürsteten ja damals
nach Wirklichkeitstreue. Zugleich aber war es ein Schauspiel, das
allem Bedeutung gab, jedem Wort und jeder Geberde, das das
kleinste Alltägliche und das niedrigste Banale nicht wegschafste oder
nmlog, sondern durchgeistigte nnd dadurch überwand. Und das alles
nicht nur verstandesmäßig in trockenen Begrifsen, sondern durch-
setzt von einer Phantastik und Symbolik, von einer Mystik sogar,
die zugleich mit dem Empsinden des Modernen die Kindheitsgesühle
der Kulturen in uns erregte. Am tiessten aber wirkte aus uns
schon damals natürlich, was uns als energische Forderung an unsern
Willen erschien: Jbsens ethischer Geist. Znm mindesten im Ein-

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